Anfang März wurde die polnische Aktivistin Justyna Wydrzyńska durch ein Warschauer Gericht zu acht Monaten gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Von der Staatsanwaltschaft gefordert wurden drei Jahre Haft. Das Verbrechen: Wydrzyńska hatte einer Frau, die schwanger und verzweifelt in einer gewaltvollen Beziehung feststeckte, auf deren Bitten hin eine Packung Abtreibungspillen zukommen lassen.

Weil Justyna Wydrzyńska als Co-Leiterin der Frauenrechtsorganisation «Kobiety w sieci» (auf Deutsch: «Frauen im Netz») und als eine der drei Gründerinnen des Abortion Dream Teams innerhalb der polnischen Frauenrechtsbewegung tätig ist, wurde aus der einfachen Hilfeleistung schnell eine politische Affäre.

Trotzdem würde Justyna Wydrzyńska alles noch einmal genauso machen, sagt sie, als sie an diesem verhangenen Frühlingsmontag die schwere Tür zum Innenhof eines wenig auffälligen Wohnhauses im Zentrum Warschaus aufschliesst.

Wydrzyńska trägt eine schwere Tasche an einem und ihren kleinen Hund im anderen Arm. Sie komme gerade aus den Ferien, und dort sei der Kleine von einer Zecke gebissen worden. Die Medikamente würden ihm zusetzen, erzählt Wydrzyńska, während sie, das geschwächte Tier im Arm, fünf Stockwerke des liftlosen Altbaus erklimmt, in dem sich das provisorische Büro von Abortion Dream Team befindet.

Mitbegründerin Natalia Broniarczyk und zwei weitere Aktivist:innen, die sich gerade um die sozialen Medien kümmern, sind bereits an der Arbeit. Das Büro ist eigentlich eine kleine Wohnung, aus dem Fenster des ehemaligen Wohnzimmers sieht man direkt auf den Kulturpalast. An den Wänden hängen politische Poster, Plakate, Bilder und Fotografien. Sie alle thematisieren das Recht auf Abtreibung, körperliche Selbstbestimmung, Queerness, Sex und Widerstand.

Auf dem grossen, hellen Sofa liegen Kissen in Pillenform, die mit «Miso» und «Mefe» beschriftet sind. Das sind die Abkürzungen für die beiden Wirkstoffe Misoprostol und Mifepristone, welche es für eine pharmazeutische Abtreibung braucht. Daneben ein Plüsch-Einhorn, ein Kleiderständer, an dem eine Freddie-Mercury-Maske baumelt. Auf einem der Schreibtische liegen neben Grabkerzen und Schreibutensilien plakative Papierboxen, die auf Polnisch mit «Abtreibungspillen» beschriftet sind. «Die haben unsere Unterstützerinnen während des Prozesses gegen Justyna im Gerichtssaal verteilt», erklärt Natalia Broniarczyk lachend.

Justyna und Natalia, glaubt man Teilen der polnischen Presse, seid ihr in erster Linie Straftäterinnen. Wie würdet ihr euch selbst nennen?

Justyna: Wir sind zwei Frauen, die das Thema Abtreibung im Blut haben.

Natalia: Und wir sind zwei von drei Gründerinnen einer Gruppe, die sich seit 2016 für den sicheren Zugang zu und das Recht auf Abtreibung einsetzt. Die dritte im Bunde, Kinga Jelinska, ist momentan ausser Land.

Welche Ziele verfolgt ihr mit Abortion Dream Team?

Zum einen helfen wir bei pharmazeutischen Abtreibungen, indem wir darüber aufklären und den Zugang zu den nötigen Medikamenten erleichtern. Zum anderen versuchen wir das Thema Abtreibung innerhalb der polnischen Gesellschaft zu entstigmatisieren. Als Teil des Netzwerks Abortion without Borders arbeiten wir zudem mit Organisationen in ganz Europa zusammen und organisieren auch Auslandsreisen in Fällen, in denen eine pharmazeutische Abtreibung nicht oder nicht mehr möglich ist.

Und das ist eure Erwerbsarbeit ?

Natalia: Ja, wir leben mittlerweile tatsächlich von dieser Arbeit. Seit dem Tribunals-Entscheid von Oktober 2020 werden wir mit Arbeit überhäuft. Wir bekamen aber auch Beachtung durch Stiftungen und Spender:innen, sodass eine Professionalisierung möglich wurde. Damals erklärte das polnische Verfassungsgericht den sogenannten «Abtreibungskompromiss» von 1993 als rechtswidrig, was faktisch zu einem Abtreibungsverbot führte. Ärzt:innen, welche Abtreibungen durchführen, die nicht auf eine Vergewaltigung zurückgehen oder das Leben der Frau gefährden, machten sich strafbar.

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Abtreibungsrecht in Polen: Das Abtreibungsrecht in Polen ist bereits seit 1993 eines der restriktivsten in der EU. Damals einigte sich die Politik mit dem Klerus, der ein komplettes Abtreibungsverbot forderte und in Polen bis heute eine wichtige Rolle in Gesellschaft, Politik und Gesetzgebung innehat, auf den sogenannten Abtreibungskompromiss. Abtreibung wurde daraufhin nur in drei Ausnahmefällen für zulässig erklärt: Bei Vergewaltigung, Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren sowie bei einer schwerwiegenden Schädigung des Fötus.

Durch einen Entscheid des polnischen Verfassungsgerichtes wurde im Oktober 2020 die letzte der drei Ausnahmeklauseln gestrichen. Faktisch bedeutet dies, dass Frauen in Polen auch dann ein Kind austragen müssen, wenn aus medizinischer Sicht klar ist, dass dieses entweder bereits tot zur Welt kommt oder aber die ersten Stunden nicht überleben wird. Nicht die Abtreibung per se ist dabei strafbar, sondern die «Unterstützung bei einer Abtreibung».

Da der Paragraph sehr schwammig formuliert ist und auch das Argument von Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren prinzipiell angefochten werden kann, nehmen zahlreiche Ärzt:innen aus Angst vor juristischen Folgen gar keine Abtreibungen mehr vor – mit fatalen Auswirkungen: Zwischen November 2020 und November 2021 sind in Polen mindestens sechs Frauen an den Folgen eines unterlassenen Schwangerschaftsabbruchs gestorben.

Das europäische Parlament bezeichnete die polnische Abtreibungsgesetzgebung in einer offiziellen Stellungnahme als «ein weiteres Beispiel für die politische Vereinnahmung». Auch Amnesty International und zahlreiche andere NGOs sprechen sich immer wieder gegen die geltende Gesetzeslage aus.

Natalia Broniarczyk
Wir möchten einen rosa Bus kaufen, durch kleine Ortschaften fahren und durch das Megaphon verkünden, dass das Abortion Dream Team heute um 19 Uhr vor der Kirche wartet, um über Abtreibung zu sprechen.

Was beinhaltet diese Professionalisierung?

Justyna: Zu Beginn haben wir drei alles selbst gemacht. Nebst der aktivistischen Arbeit haben wir Beratungen gemacht, also auf E-Mails, Telefonanrufe und Nachrichten auf den sozialen Medien geantwortet. Zudem fuhren wir bis zum Ausbruch der Pandemie durchs Land und führten Schulungen durch. Nach dem Entscheid des Verfassungsgerichts gab es auf einen Schlag so viel zu tun, dass sich in unserem Umfeld eine entsprechend durch uns geschulte Gruppe aus Unterstützer:innen gebildet hat. Mittlerweile sind es vor allem sie, die auf alle Nachrichten antworten. Wir kümmern uns weiterhin um die Öffentlichkeitsarbeit, organisieren Treffen und Zusammenkünfte.

Natalia: Wir träumen aber davon, wieder unterwegs zu sein. Wir möchten einen rosa Bus kaufen, durch kleine Ortschaften fahren und durch das Megaphon verkünden, dass das Abortion Dream Team heute um 19 Uhr vor der Kirche wartet, um über Abtreibung zu sprechen.

Wie kam es zu dem Namen Abortion Dream Team?

Natalia: Wir hatten unser erstes Treffen im Oktober 2016. Ein Foto davon stellte ich später auf mein privates Facebook Profil und kommentierte: «Mein persönliches Abortion Dream Team!» Das war nicht als Namen gemeint, mehr als Bemerkung. Eine Woche später rief eine Journalistin bei mir an und erkundigte sich nach einem Interview. In ihrem Artikel schrieb sie dann von der Entstehung des Abortion Dream Teams, das bei Abtreibungen hilft.

Justyna: Der Name provoziert, er passt zu uns. Seit es uns gibt, reiten wir die Kontroverse, von Anfang an wurden wir als Verrückte bezeichnet. In den Medien hiess es, wir würden dem polnischen Feminismus ins Bein schiessen und die Demokratie gefährden.

Ihr seid auch in den sozialen Medien sehr aktiv, wo ihr etwa Memes über polnische Politiker:innen postet. Verfolgt ihr bewusst eine provokante Strategie?

Natalia: Für uns ist es wichtig, auf aktuelle Ereignisse zu reagieren, und wir wollen dies auf eine Art machen, die verständlich ist. Ein Grossteil der Frauen, die in Polen auf eine Abtreibung angewiesen sind, sind zwischen 18 und 35 Jahre alt. Sie leben nun mal im Internet, Memes funktionieren daher wunderbar als Ansprache für diese Zielgruppe

Gibt es auch negative Reaktionen?

Natalia: Wir bekommen schon mal böse Briefe, Mails oder Anrufe. Während der Einsätze auf der Strasse ist bisher aber noch nichts passiert. Ein radikaler Abtreibungsgegner ist im echten Leben niemals so mutig wie im Internet. Und wenn uns jemand Mörderinnen nennen will, dann soll er das halt tun.

Justyna: Wichtiger sind uns die Personen, die uns anrufen und sagen: «Ich war bisher eine Gegnerin von Abtreibung, aber jetzt brauche ich selbst eine.» Oder sogar: «Ich bin immer noch Abtreibungsgegnerin, aber in meinem Fall ist eine Abtreibung zulässig, auch wenn sie bei den anderen meist falsch ist.»

Das kommt vor?

Natalia: Natürlich, die ganze Zeit. Wir bewerten diese Personen nicht, wir geben ihnen genau dieselbe Hilfe und Beratung wie allen anderen auch. Wir sagen: «Deine politischen Ansichten interessieren uns nicht, sag uns einfach, in welcher Woche du bist.»

Ihr fragt also nie nach den Gründen für einen geplanten Schwangerschaftsabbruch?

Natalia: Nie. Aber die Frauen erzählen oft von sich aus. Nicht nur, weil sie Redebedarf haben, sondern weil sie ihr Vorgehen vor sich selbst rechtfertigen möchten. Wir sagen ihnen dann, dass wir das nicht wissen müssen.

Justyna: Im Gegensatz zu uns sind viele Medien sehr interessiert an den Gründen für eine Abtreibung. Wir sehen das momentan in Bezug auf die Ukraine und das Thema Vergewaltigungen im Kriegskontext.

Inwiefern?

Justyna: Es erreichen uns immer wieder Anfragen dazu, ob wir von im Krieg vergewaltigten Frauen überrannt würden und genaue Zahlen hierzu nennen können, aber wir wollen und können keine Auskunft geben. Wir fragen die Frauen, die zu uns kommen, nicht nach den Ursachen ihrer Schwangerschaft, das geht uns nichts an und hat auch keine Auswirkung auf unsere Hilfe. Dasselbe gilt für geflüchtete Ukrainerinnen.

Welche Geschichten aus den vergangenen Jahren sind euch besonders in Erinnerung geblieben ?

Justyna: Während des Lockdowns wurde klar, wie viele Frauen mit gewalttätigen Partnern zusammenleben. Diese Frauen mussten uns heimlich schreiben, die Medikamente verstecken, die Abtreibungen nachts allein auf der Toilette durchführen und hoffen, dass der Partner nicht aufwacht. Das war hart zu ertragen. Wir sprachen mit hunderten von Frauen, die uns sagten: «Ich muss alles machen, damit er nicht merkt, dass ich abgetrieben habe.» Die anriefen und flüsternd fragten: «Wie täusche ich eine Fehlgeburt vor?»

Natalia: Für mich gab es während der Pandemie noch eine weitere Geschichte, die ich bis heute nicht abschütteln konnte.

Erzähl.

Natalia: Es meldete sich eine Frau bei uns, die bereits im sechsten Monat schwanger war. Da ihr vor wenigen Monaten ein Gehirntumor entfernt worden war und sie Medikamente einnahm, die ihre Regelblutung unterdrückten, hatte sie nichts davon gemerkt. Diese Frau brach am Telefon komplett zusammen. Sie sagte: «Ich kann nicht schwanger sein, denn sie werden mir sagen, der Embryo sei wichtiger als ich, und meine Medikamente abstellen, weil diese dem Embryo schaden könnten.» Wir organisierten einen Gynäkologen in Danzig. Er versicherte ihr, dass er ihre Schwangerschaft abbrechen werde, wenn sie eine neurologische Bescheinigung dafür vorlegen kann, dass sie auf diese Medikamente angewiesen ist.

Warum konnte sie sich nicht an ihre eigenen Ärzt:innen wenden?

Natalia: Sogar ihre eigene Neurologin, die sie an diesem Punkt jahrelang im Kampf gegen den Krebs begleitet hatte, sagte ihr ab, weil sie juristische Folgen fürchtete. Eines Nachts rief mich der Ex-Partner dieser Frau auf meiner privaten Handynummer an und sagte mir, dass er fürchterliche Angst um sie hätte. Sie sagte, sie würde sich das Leben nehmen, wenn sie dieses Kind austragen müsse.

Natalia Broniarczyk
Dieser Fall zeigt beispielhaft auf, dass die Ärzt:innen sich nicht nach den medizinischen Notwendigkeiten richten, sondern nach der polnischen Politik.

Wie konntet ihr dieser Frau helfen?

Natalia: Schliesslich gelang es uns, sie dank Abortion without Borders trotz Pandemie nach Spanien auszufliegen. Dort bekam sie in der Klinik eine Spritze zur Spätabtreibung verabreicht. Ihr hätte so viel Leid erspart werden können, hätte sie einfach eine Bescheinigung bekommen. Dieser Fall zeigt beispielhaft auf, dass die Ärzt:innen sich nicht nach den medizinischen Notwendigkeiten richten, sondern nach der polnischen Politik. In diesem Land wird im Hinblick auf das Thema Abtreibung ein solches Klima der Angst vor juristischen Folgen verbreitet, dass viele Fachpersonen auch dann lieber die Finger von einem Eingriff lassen, wenn es rein rechtlich noch zulässig wäre.

Lass uns über deinen Prozess sprechen, Justyna. Was war passiert?

Justyna: Im Februar 2020 wurde ich von anderen Aktivist:innen auf eine Frau hingewiesen, die sich in der zwölften Woche einer ungewollten Schwangerschaft befand. Sie war in einer gewaltvollen Beziehung gefangen: Ihr Mann kontrollierte die Post, ihr Telefon und verbot ihr, auch nur an Abtreibung zu denken. Ich hatte damals einige Pillen zur pharmazeutischen Abtreibung für den Eigengebrauch zu Hause und schickte eine Dosis davon an einen Postautomaten, wo die Frau das Päckchen holen sollte. Zwei Tage später erfuhren wir, dass die Polizei die Medikamente abgefangen hatte. Ihr Partner hatte irgendwie Wind von der Sache bekommen und die Polizei eingeschaltet.

Und dann?

Justyna: Lange hörte ich nichts von der Polizei, aber ich wusste, dass sie die Sendung zu mir zurückverfolgen könnte. Am 1. Juni 2021 kam es schliesslich zu einer Hausdurchsuchung. Ich glaube, die Polizei meinte damals, sie würde Säcke mit Pillen in meiner Wohnung entdecken, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Also nahmen sie stattdessen unter dem Argument der Spurensicherung meine gesamte Elektronik mit. Ich glaube ehrlich gesagt, das war einfach Schikane. Vielleicht hofften sie auch darauf, Hinweise auf gewerbsmäßigen Handel mit diesen Tabletten zu finden. Im November 2021 erhielt ich die Anklageschrift, in der mir Beihilfe zur illegalen Abtreibung vorgeworfen wurde. Im Dezember folgte ein Ausreiseverbot, und im April 2022 kam es zur ersten Gerichtsverhandlung.

Ist es denn illegal, diese Medikamente zu besitzen?

Justyna: In Polen darf jeder und jede für den Eigengebrauch Medikamente besitzen, auch solche, die hier nicht registriert sind. Man kann diese in kleinen Mengen über die Website der NGO «Women help Women» legal bestellen. Es ist aber illegal, Medikamente für jemand anderen zur Verfügung zu stellen, solange die Intention vorliegt, diese Person zu einer Abtreibung überreden zu wollen.

Wie hast du den Prozess erlebt?

Justyna: Am ersten Verhandlungstag bekannte ich mich dazu, diese Medikamente verschickt zu haben. Wenn jemand in einer gewaltvollen Beziehung feststeckt und eine ungewollte Schwangerschaft beenden will und diese Person absolut keine Alternativen hat, ist es aus meiner Sicht keine Straftat, dieser Person die Werkzeuge dafür unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Ich habe keinen Einfluss auf ihre Entscheidung genommen, sie stand schon lange fest. Und sie konnte die Abtreibung schliesslich auch durchführen. Hätte die Frau die Pillen damals selbst über das Internet bestellt, hätte es keinen Prozess gegeben.

In anderen Interviews bezeichnest du diese Verhandlungen als politischen Prozess. Weshalb?

Justyna: Bereits in der Anklageschrift stand, dass ich ein Mitglied von Abortion Dream Team bin, obwohl das mit dem konkreten Fall gar nichts zu tun hat. Ich habe als Privatperson gehandelt. Auch die Beweise, die gegen mich vorgebracht wurden, hatten mit der konkreten Verhandlung nichts zu tun. So habe ich etwa auf Einladung der Linkspartei vor einiger Zeit im polnischen Parlament über die gravierenden Folgen der erneuten Einschränkung des Abtreibungsrechtes gesprochen. Ein Video dieser Ansprache wurde vor Gericht als Beweis gegen mich abgespielt.

Natalia: Bereits als Justyna die Anklageschrift erhielt, informierte die Gerichtsschreiberin ohne unser Wissen den regierungstreuen, konservativen Fernsehsender TVP über die anstehende Verhandlung. Ironischerweise erfuhren wir dann auch selbst erst aus dem Fernsehen vom Ausmass des Prozesses «gegen das Abortion Dream Team».

Justyna: Ich wurde schliesslich wegen Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch zu acht Monaten gemeinnütziger Arbeit und dem Abzahlen der Gerichtskosten verurteilt. Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig, und wir werden ihn anfechten.

Justyna Wydrzyńska
Wenn man sich in einem Land wie Polen für Abtreibungen einsetzt, braucht man einen Plan A, B, C und D.

Wie stehen eure Chancen?

Justyna: Von den 22 Richter:innen am polnischen Appellationsgericht sind 15 sogenannte Neo-Richter:innen mit politischem Hintergrund, die direkt von der PIS – der rechtskonservativen Regierungspartei – aus dem Kreis ihrer Unterstützer:innen einberufen wurden. Aber wenn wir uns an den europäischen Gerichtshof wenden, stehen unsere Chancen gut. Diesen Weg werden wir gehen. Mich interessiert kein anderes Urteil als ein Freispruch.

Kam es euch denn je in den Sinn, Polen zu verlassen?

Justyna: Wir verlassen Polen erst dann, wenn unsere Arbeit gänzlich verboten wird. Dann wechseln wir eben in ein anderes Land. Unsere Arbeit aufgeben werden wir nicht. Wir haben das alles schon oft durchdiskutiert. Wenn man sich in einem Land wie Polen für Abtreibungen einsetzt, braucht man einen Plan A, B, C und D.

Am Tag des Treffens mit Justyna Wydrzyńska und Natalia Broniarczyk erschien auf dem unabhängigen Nachrichtenportal oko press das erste und bisher einzige Interview mit jener Frau, der Justyna helfen wollte und wofür sie verurteilt wurde. Darin sagt die Betroffene unter dem Pseudonym Ania: « Ich wäre lieber gestorben, als dieses Kind auszutragen. Ich war entschlossen, eine Abtreibung zu machen, egal was passiert. Notfalls hätte ich es selbst mit einem Draht gemacht.» Eine Übersetzung des Artikels auf Englisch findest du hier.

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