Seit 20 Jahren dürfen Frauen in der ganzen Schweiz straffrei abtreiben. Was haben die Frauen davor gemacht?

Vor der Einführung der Fristenregelung waren Abtreibungen ja nicht grundsätzlich verboten. Aber sie waren nicht schweizweit gesetzlich geregelt, und es galten strengere Auflagen. Das war von Kanton zu Kanton anders, da gab es tatsächlich grosse Unterschiede. Einerseits gab es Kantone, welche die Fristenregelung schon vor der gesetzlichen Einführung eins zu eins umgesetzt haben. Andererseits gab es aber auch Kantone, gerade eher konservative, da war es ziemlich schwierig, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Die Frauen haben sich aber ausgetauscht, und man wusste natürlich, wo es einfacher ist, welcher Arzt oder welche Ärztin praktizierte.

Gab es vor der Fristenregelung mehr Schwangerschaftsabbrüche als heute?

Tatsächlich, ja. Unter anderem auch deshalb, weil der Zugang zu Verhütungsmitteln damals noch schwieriger war und dadurch mehr Menschen ungewollt schwanger wurden. Das zeigt aber auch: Man treibt nicht ab, bloss weil es legal ist. Schwangerschaftsabbrüche gab es immer und wird es immer geben. Und illegale Praktiken sind immer gefährlich. Bis heute sind solche illegalen Abbrüche die häufigste Ursache für Müttersterblichkeit weltweit.

Warum ist der Schwangerschaftsabbruch eigentlich im Strafgesetzbuch geregelt?

Es war ein Kompromiss, den die Initiantinnen eingingen. Das Recht auf Abtreibung ist auch in vielen anderen europäischen Ländern im Strafgesetz geregelt, und das hat man damals als Vorbild genommen. Mit dieser Haltung hatte die Initiative auch bei den eher konservativen Parlamentarier:innen bessere Chancen. Man sagt damit im Prinzip: Eigentlich ist eine Abtreibung verboten, ausser man befindet sich in einer Notsituation, darum muss dieses Recht im Strafgesetzbuch geregelt sein. Und der Plan ging ja dann zum Glück auf.

Was heisst das denn, wenn Abtreibungen strafgesetzlich geregelt sind?

Es bedeutet, dass ab der zwölften Woche nicht mehr der betroffene Mensch entscheidet, sondern die zuständigen Ärzt:innen. Sie müssen beurteilen, ob eine Abtreibung gerechtfertigt ist. Das gibt ihnen extrem viel Macht und ist sehr paternalistisch, weil es so de facto ab der zwölften Woche kein vollständiges Recht mehr gibt auf selbstbestimmte Abtreibungen. Wenn etwas strafgesetzlich geregelt ist, kann das dazu führen, dass Betroffene Angst haben, sich strafbar zu machen. Auch auf das Gesundheitspersonal hat dies Auswirkungen.

Inwiefern?

Wird etwas als potenzielle Straftat und nicht als gesundheitlicher Service wahrgenommen, führt das zu Stigmatisierung – und Angst. Wir wissen, dass es Ärzt:innen und ganze Spitäler gibt, die Schwangerschaftsabbrüche aus diesen Gründen verweigern. Das darf man, es gibt keinen schweizweiten gesetzlichen Zwang, solche Eingriffe durchführen zu müssen, im Gegenteil: In St. Gallen steht das Recht, Abtreibungen zu verweigern, im Gesetz. In anderen Kantonen ist dieses Recht nicht explizit festgehalten, dort geht es eher in die andere Richtung: Man ist sensibilisiert in Spitälern, es gibt mehr Schulungen für das Personal.

Noémi Grütter
Wird etwas als potenzielle Straftat und nicht als gesundheitlicher Service wahrgenommen, führt das zu Stigmatisierung – und Angst.

Wie häufig wird eine Abtreibung verweigert?

Genaue Zahlen haben wir dazu nicht, weil wir nicht immer wissen, ob die Betroffenen schon von Ärzt:innen weggewiesen wurden. Aber wir wissen von unseren Mitgliedern, den Zentren für sexuelle Gesundheit, dass es noch immer häufig vorkommt – in konservativen Kantonen öfter als etwa in Genf. Deswegen wurde die Organisation APAC gegründet, ein Zusammenschluss von Ärzt:innen und Praxen, die Abbrüche durchführen. Die Organisation bietet eine Liste mit entsprechenden Adressen an. Auch unsere Zentren für sexuelle Gesundheit, die es in jedem Kanton gibt, haben solche Listen mit Empfehlungen. Aber es gibt nach wie vor eine riesige Lücke in Bezug auf das Angebot oder das Wissen und den Zugang zu Informationen. Das alles zeigt, dass wir kein vollständiges Recht auf Abtreibung haben, so lange die Umsetzung nicht problemlos funktioniert. Und deshalb wäre es ein klares Zeichen, die Fristenregelung aus dem Strafgesetzbuch zu nehmen.

Die Nationalrätin und Präsidentin von Sexuelle Gesundheit Schweiz, Léonore Porchet, wird am 2. Juni einen entsprechenden parlamentarischen Vorstoss einreichen: Sie fordert, dass der Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch entfernt wird.

Ich finde diesen Vorstoss sehr wichtig, um einen Schritt vorwärtszukommen und das uneingeschränkte Recht auf Abtreibungen wirklich vollständig zu realisieren. Die Schweiz hat verschiedene internationale Verträge unterschrieben, die einem dieses Recht geben, und sie muss diese Auflagen entsprechend umsetzen. Wir wollen, dass der Schwangerschaftsabbruch als das gesundheitliche Thema angesehen wird, das er schlicht und einfach ist. Es geht um Gesundheit und die Entscheidungsfreiheit über die eigene Gesundheit und den eigenen Körper, das hat nichts mit einem Strafgesetzbuch zu tun. Wir hoffen, dass der Vorstoss eine positive Diskussion auslösen wird. Die Schweizer Bevölkerung ist einfach noch nicht ausreichend aufgeklärt darüber, wie die Rechtslage wirklich ist.

Zum Beispiel?

Eine minderjährige Person darf auch ohne elterliche Zustimmung eine Schwangerschaft abbrechen. Darüber müssen wir informieren, und es ist gut, wenn die Zündung durch eine politische Aktion entsteht. Der parlamentarische Vorstoss kommt auch zu einer Zeit, in der es andere politische Initiativen gibt, die mehr Barrieren aufbauen wollen, wenn es um das Recht auf Abtreibungen geht.

Noémi Grütter
Wir wollen, dass der Schwangerschaftsabbruch als das gesundheitliches Thema angesehen wird, das er schlicht und einfach ist.

Sie sprechen die zwei Initiativen «Einmal drüber schlafen» und «Lebensfähige Babys retten» der beiden SVP-Nationalrätinnen Andrea Geissbühler und Yvette Estermann an. Die erste Initiative will, dass Frauen einen Tag Bedenkzeit nehmen müssen zwischen Gespräch und Abbruch. Wie beurteilen Sie diese Forderung?

Beide Initiativen widerspiegeln überhaupt nicht die Realität in der Schweiz und sind aus meiner Sicht nur dazu da, das Recht auf Abtreibungen zu attackieren. Das macht mich sehr wütend. Bei der «Einmal-drüber-schlafen»-Initiative wird so getan, als ob man am Morgen aufsteht und sich denkt: «Ich will dieses Baby nicht mehr, ich gehe jetzt spontan in ein Spital und lasse eine Abtreibung machen.» Dem ist einfach nicht so. Alle Menschen, die eine Schwangerschaft abbrechen, machen vorher einen längeren Prozess durch. Man spricht mit Freund:innen, mit dem Partner oder der Partnerin und lässt sich vielfach professionell beraten. Von daher gibt es sowieso schon eine Bedenkzeit, einfach keine gesetzlich festgeschriebene.

Die zweite Initiative will Abbrüche nach der 22. Woche in jedem Fall verbieten. Was ist hier Ihre Einschätzung?

Auch diese Forderung hat nichts mit der Realität zu tun. 95 Prozent aller Abbrüche in der Schweiz werden in den ersten zwölf Wochen vorgenommen. Bei den restlichen fünf Prozent hat die Entscheidung oft damit zu tun, dass das Kind schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen haben würde und man sich aus diesem Grund dafür entscheidet, die Schwangerschaft abzubrechen. Diese Initiative zielt also offenbar genau auf diese Personen, was nicht nur unfair, sondern eben auch realitätsfern und unnütz ist.

Die Initiant:innen argumentieren damit, die Zahl der Abtreibungen senken zu wollen.

In jedem Land in Europa werden mehr Abtreibungen durchgeführt als in der Schweiz. Diese Argumentation ist klassisch für sogenannte «Anti-Choice»-Bewegungen, die oft aus einem rechtskonservativen Umfeld stammen. Aber es geht nicht um weniger Abtreibungen. Es geht darum, unsere Rechte zu attackieren, und es gibt auch in der Schweiz noch ganz viele Hürden für Menschen, die das Recht auf Abtreibungen nicht wahrnehmen können.

Welche Hürden meinen Sie?

Ein Schwangerschaftsabbruch kann eine grosse finanzielle Belastung bedeuten.

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Wie teuer ist eine Abtreibung?

Sie kostet zwischen 500 und 3000 Franken. Es kommt darauf an, ob man sie medikamentös oder chirurgisch durchführt und wie kompliziert sie ist, das hängt auch vom eigenen Gesundheitszustand ab. Eigentlich ist es so, dass die Krankenkasse die Abbrüche übernimmt – aber da gibt es natürlich die Franchise. Die ist höher für Menschen mit weniger Geld, die bei den monatlichen Beiträgen sparen wollen. Die Franchise kann so hoch sein, dass man fast die ganzen Kosten selber übernehmen muss. Das ist eine klare Hürde für manche Menschen. Dazu kommt, dass nicht alle eine Krankenkasse haben: Sans-Papiers, viele Sexarbeiterinnen oder Leute, die auf der so genannten «black list» stehen. Das sind extrem vulnerable Personen, die darauf angewiesen sind, Abbrüche auch ohne grosse finanzielle Mittel machen zu können, und das ist momentan nicht gewährleistet. Wir wissen von den kantonalen Zentren für sexuelle Gesundheit, dass das ein Riesenproblem ist. Es gibt viele, die einen Abbruch nicht bezahlen können. Wir haben daher den Anne-Marie-Rey-Fonds für diese Betroffenen, um sie in dieser Notsituation zu unterstützen. Während Corona, als viele Menschen noch weniger Geld hatten, haben wir mit der Glückskette einen Notfonds eingerichtet. Dieses Geld von privaten Spender:innen ist immer schnell aufgebraucht.

Welche weiteren Probleme gibt es?

Neben den finanziellen Barrieren, die sich aus der Franchise der Krankenkasse ergeben können, spielen auch die Versicherungen eine Rolle. Dort ist die Vertraulichkeit oft nicht gewährleistet: Wenn etwa eine 16-Jährige einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt, wird die Rechnung in der Regel nach Hause an die Eltern geschickt. Und wenn man diese Rechnung aufmerksam studiert, kann man herausfinden, dass die Tochter einen Abbruch gemacht hat – vielleicht will sie aber nicht, dass ihre Eltern davon erfahren. Das kann auch für Frauen gefährlich sein, die ihren Männern nicht vom Schwangerschaftsabbruch erzählen können oder wollen. Gerade, wenn man sich in einer gewaltvollen Beziehung befindet, kann das verheerende Auswirkungen haben.

Abtreibungsgegner:innen wollen eine Welt ohne Schwangerschaftsabbrüche. Aber was bräuchte es dafür?

Ich kann es nur wiederholen: Es wird immer Schwangerschaftsabbrüche geben. Immer. Aber man kann die Zahl verringern, wenn man beispielsweise Verhütungsmittel gratis zugänglich macht, zumindest für junge Erwachsene, wie es beispielsweise in Frankreich der Fall ist. Dennoch: Selbst wenn es so wäre, dass der Zugang zu Verhütungsmitteln absolut gewährleistet wäre, kann man schwanger werden, und dann braucht es das Recht auf Abtreibung.

Noémi Grütter
Es wird immer Schwangerschaftsabbrüche geben. Immer.

Welche Rolle spielt die Sexualaufklärung in der Schule?

Eine sehr wichtige. Obwohl die Sexualaufklärung im Lehrplan 21 festgehalten ist, wird sie nicht in allen Kantonen auf dem gleichen Level durchgeführt. Es gibt nach wie vor viele Schulen, an denen man nicht über Schwangerschaftsabbrüche und die Rechte aufklärt. Somit haben diese jungen Menschen die Informationen nicht von der Schule. Sie wissen vielleicht gar nicht, dass sie dieses Recht haben und woher sie die entsprechenden Informationen bekommen. Auch die richtige, selbstbestimmte Verhütung oder der genaue Ablauf des Menstruationszyklus – also auch der fruchtbaren Tage – werden noch immer zu wenig unterrichtet. Würde sich all das ändern, könnten mehr ungewollte Schwangerschaften verhindert werden.

Wenn das Recht auf Abtreibung angegriffen wird, hört man oft das Argument, dass «viele» Frauen ihre Entscheidungen bereuen. Was bräuchten diese Frauen?

Das sehen wir anders. Die Rückmeldungen der Zentren für sexuelle Gesundheit zeigen, dass es sich um Einzelfälle handelt, in denen die Frau ihre Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch bereut. Normalerweise sind das sehr bewusste Entscheidungen, die lange überlegt wurden und für die alle Faktoren in Betracht gezogen wurden. Dieses Bereuen ist ein Mythos, der für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Was diese Menschen brauchen, sind entsprechende Infrastrukturen, die sie auffangen. Zum einen dann, wenn sie einen Abbruch wirklich bereuen – dann bräuchte es zum Beispiel zugängliche psychologische Beratung und Betreuung. Und zum anderen braucht es ausführliche Informationen und barrierefreien Zugang zu Beratungszentren. Das alles kann das Stigma rund um Abtreibungen abbauen; denn das existiert nach wie vor.

Am 2. Juni findet in Bern eine politische Aktion der Stiftung Sexuelle Gesunheit Schweiz statt. Sie fordert, dass die Abtreibung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird.

Die Geschichte des Rechts auf Abtreibung

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung in der Schweiz geht weit zurück: Vor der Einführung der sogenannten Fristenregelung durften Abtreibungen laut Strafgesetzbuch seit 1942 zwar durchgeführt werden, allerdings nur in medizinischen Notfällen; also etwa dann, wenn das Leben der Mutter auf dem Spiel stand.

Die gesellschaftliche Diskussion um das Recht auf Abtreibung wurde 1970 erneut aufgerollt, als Ärzt:innen in Neuenburg mehrfach vor Gericht standen und verurteilt wurden, weil sie Abtreibungen durchgeführt hatten. Ein Jahr später setzte der Kanton Neuenburg mit einer Standesinitiative die Streichung des Abtreibungsverbots durch. Auch der Bundesrat beschloss daraufhin eine Revision des entsprechenden Eintrags im Strafgesetzbuch. Abtreibungen waren aber noch lange nicht schweizweit gesetzlich geregelt.

1973 gründete eine Gruppe um die Schweizer Frauenrechtlerin Anne-Marie Rey die Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS), die zwei Jahre später die «Initiative für eine Fristenlösung» einreichte. Sie forderte einen straffreien Abbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen. 1977 wurde die Initiative vom Stimmvolk abgelehnt, ein Jahr später scheiterte auch ein Gegenentwurf des Parlaments an der Urne.

Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs war politisch immer wieder Thema. Erst Anfang der 1990er-Jahre wurde dann der Grundstein für die heutige Fristenregelung gelegt.

Mehrere Frauenorganisationen und feministische Aktivistinnen nahmen die Diskussion um legale Schwangerschaftsabbrüche erneut auf. Im Frühjahr 1993 reichte die damalige SP-Nationalrätin Barbara Haering eine parlamentarische Forderung für eine Fristenlösung ein.

Noch 1998 sprach sich der Bundesrat gegen eine Fristenlösung aus – er bevorzugte ein Modell mit vorgängiger Beratungspflicht, wie es die CVP damals vorschlug. Ein Jahr später lancierte die Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) die Initiative «Für Mutter und Kind», die ein totales Verbot von Abtreibungen verlangte. Die Vorlage wurde später von über 80 Prozent der Stimmbevölkerung abgelehnt.

Am 23. März 2001 nahmen sowohl der Stände- als auch der Nationalrat die Vorlage für die Fristenlösung an. Die CVP sowie privat organisierte Abtreibungsgegner:innen ergriffen das Referendum. Vor 20 Jahren, am 2. Juni 2002, wurde die Vorlage über die Fristenregelung vom Schweizer Stimmvolk mit rund 70 Prozent Ja-Stimmen an der Urne angenommen. Seither dürfen Frauen in der Schweiz bis zur zwölften Woche straffrei abtreiben, wenn sie sich in einer Notlage befinden.

2014 brachten christliche und konservative Abtreibungsgegner:innen die Diskussion erneut auf: Die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» forderte, dass die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr von den Krankenkassen übernommen werden sollen. Über 100’000 Unterschriften konnten gesammelt werden, an der Urne wurde die Initiative jedoch von fast 70 Prozent der Stimmbevölkerung abgelehnt.

Seither scheint sich die politische Diskussion rund ums Thema Abtreibungen in der Schweiz mehrheitlich beruhigt zu haben. Jedoch: Aktuell werden für zwei Initiativen Unterschriften gesammelt, die höhere Auflagen für Abtreibungen zum Ziel haben.