«Wir drehen hier nicht an einem Schräubchen im System. Wir krempeln das System um.» Elli von Planta ist nicht bescheiden, wenn es um ihre Überzeugungen geht. Und noch weniger bei ihrem Vorhaben: Die 73-Jährige will in der Schweiz das bedingungslose Grundeinkommen einführen. Sie vergleicht die Idee mit dem Jahr 1848, als die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat mit einer demokratischen Verfassung wurde – mitten im monarchistischen Europa. «Etwa diese Dimension hat unser Vorhaben.»

Zusammen mit dem Verein Grundeinkommen Schweiz sammelt Elli von Planta derzeit Unterschriften für eine eidgenössische Volksinitiative. Es ist der zweite Anlauf, den das Grundeinkommen nimmt. Bereits 2016 stimmten die Schweizer:innen darüber ab. 77 Prozent lehnten die Initiative damals ab. Trotzdem wollen die Befürworter:innen das Thema nochmal auf die nationale Politbühne bringen. Dabei zählen sie auf die Frauen: «Das Grundeinkommen ist nach der Einführung des Frauenstimmrechts der nächste grosse Schritt in Richtung Unabhängigkeit der Frauen», sagt Elli von Planta.

Elli von Planta, Verein Grundeinkommen Schweiz
«Mit einem Grundeinkommen würde die Care-Arbeit, die in unserem Land geleistet wird, in gewisser Weise sichtbarer und mindestens gewürdigt.»

Aber warum ist das Grundeinkommen gerade für Frauen wichtig?

Unbezahlte Arbeit lautet hier das Stichwort, oder auch Care-Work. Denn davon leisten die Frauen hierzulande eine ganze Menge und deutlich mehr als die Männer. Die Zahlen sind eindrücklich: Über 9 Milliarden Stunden arbeiteten die Menschen in der Schweiz 2020 freiwillig – also gratis. Auf der anderen Seite stehen 8 Milliarden Stunden bezahlte Erwerbsarbeit. Die unbezahlte Arbeit hat einen Wert von satten 409 Milliarden Franken. Dieser wird übrigens nicht zur Wirtschaftsleistung gerechnet und ist im BIP nicht enthalten.

Unbezahlte und bezahlte Arbeit in der Schweiz

Am meisten gratis gearbeitet wird nicht in Vereinen, sondern in den eigenen vier Wänden – also im Haushalt und bei der Betreuung von Kindern (8,5 Milliarden Stunden). Hier kommen die Frauen ins Spiel: Sie übernehmen den Grossteil dieser Gratisarbeit (61 Prozent). Würden ihre Stunden effektiv bezahlt, würde das die Gesellschaft rund 242 Milliarden Franken kosten.

Wert der Haus- und Familienarbeit

Warum soll man diese Arbeit bezahlen, wenn es auch gratis geht?

Auf diese Frage gibt es eine einfache und eine komplexere Antwort. Die einfache: Weil es schlicht nicht fair ist, dass Frauen so viele Stunden arbeiten, ohne dafür auch nur einen Franken zu bekommen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ohne diese Leistung das gesamte System kollabieren würde.

Die komplexere: Die Tatsache, dass Frauen für ihre Leistung nicht bezahlt werden, hat langfristige finanzielle Konsequenzen. Frauen in der Schweiz bekommen im Schnitt 37 Prozent weniger Rente. In der zweiten Säule liegt die Differenz bei 60 Prozent. Sie sind darum deutlich öfter von Altersarmut betroffen als Männer. Insgesamt können sich rund 56 Prozent der Frauen in der Schweiz nicht alleine über Wasser halten. Bei Frauen mit Kindern sind es sogar zwei Drittel. Sie alle sind finanziell abhängig von ihren Partnern, weil sie mehr Zeit mit Gratisarbeit verbringen als mit Erwerbsarbeit. Dieses Ungleichgewicht macht Franziska Schutzbach in ihrem Buch «Die Erschöpfung der Frauen – Wider die weibliche Verfügbarkeit» deutlich: Frauen arbeiten fast 70 Prozent ihrer Arbeitszeit gratis. Männer hingegen werden für über 80 Prozent ihrer Arbeitszeit bezahlt.

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Was hat nun das Grundeinkommen mit all dem zu tun?

Es könnte dieses Ungleichgewicht etwas ausgleichen. Davon sind zumindest die Initiant:innen überzeugt. «Mit einem Grundeinkommen würde die Care-Arbeit, die in unserem Land geleistet wird, in gewisser Weise sichtbarer und mindestens gewürdigt», sagt Elli von Planta. Wie der Name sagt, hätte jeder Mensch Anrecht auf das Grundeinkommen – bedingungslos. Elli von Planta und ihre Mitstreiter:innen reden in diesem Zusammenhang von einer «Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen» und betonen: «Wir müssen darüber diskutieren, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen und wie wir es schaffen, unsere Sozialsysteme nicht mehr nur um die Erwerbsarbeit herum zu organisieren.»

Das Grundeinkommen soll dabei kein Anreiz sein, weniger Erwerbsarbeit zu leisten. Vielmehr sei es zur Existenzsicherung gedacht. «Wir wollen, dass niemand mehr in unbefriedigenden oder krankmachenden Beziehungen ausharren muss – weder privat noch beruflich. Nur weil er oder sie keine Wahl hat», so Elli von Planta. Frauen, die in traditionellen Familienmodellen leben, sollen durch das Grundeinkommen ein Stück Unabhängigkeit bewahren.

Wie viel Geld ist denn die Care-Arbeit wert?

Das ist noch nicht definiert. Die Initiant:innen lassen die Ausgestaltung des Grundeinkommens offen. Sowohl die Höhe des Betrags als auch das Zusammenspiel mit den Sozialversicherungen wären Sache der Politik. Grundsätzlich sieht das Komitee folgendes Prinzip vor: Wer zu wenig Geld hat, bekommt das Grundeinkommen ausbezahlt, wer das Geld nicht braucht, rechnet es über die Steuern ab.

Das Initiativkomitee rechnet mit einem Betrag von 2500 Franken für eine erwachsene Person. Kinder bekämen die Hälfte. Erwachsene ohne Einkommen, wie beispielsweise Student:innen, Künstler:innen oder Menschen, die sich Vollzeit um die Familienarbeit kümmern, erhalten monatlich den vollen Betrag ausbezahlt. Wer zu wenig verdient, um die durchschnittlichen Lebenskosten decken zu können, ebenfalls. Wer genug verdient oder nicht auf das Grundeinkommen angewiesen ist, erhält nichts. Dafür hat man die Möglichkeit, das Grundeinkommen über die Steuern abzurechnen und so von Steuergutschriften zu profitieren.

«Bei diesem Szenario würden in der Schweiz rund 25 Prozent der Bevölkerung – Kinder eingeschlossen – ein Grundeinkommen erhalten», sagt Elli von Planta. 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung würden von den Steuergutschriften profitieren. Die restlichen rund 25 Prozent der Bevölkerung, die sehr gut verdienen, profitieren laut den Initiant:innen nicht vom Grundeinkommen.

Monika Bütler, Ökonomin
«Care-Arbeit wird nicht aufgewertet, wenn ein 20-jähriger Lebenskünstler gleich viel Geld erhält wie eine Mutter, die zwei Kinder mit Behinderung 40 Jahre lang betreut.»

Was würde das Grundeinkommen kosten – und wer bezahlt?

Das Grundeinkommen kostet den Staat in dieser Form und in dieser Höhe zwischen 25 und 40 Milliarden Franken. Bezahlt werden soll das über zusätzliche Steuereinnahmen. Konkret wollen die Initiant:innen den Finanzsektor und die Tech-Branche vermehrt zur Kasse bitten. Gerechnet wird mit 40 bis 60 Milliarden Franken Zusatzeinnahmen.

Und wo ist der Haken?

Da gibt es gemäss Kritiker:innen mehrere. Monika Bütler, selbstständige Ökonomin und ehemalige Professorin für Wirtschaftspolitik, glaubt nicht, dass ein Grundeinkommen die Lösung ist: «Care-Arbeit wird nicht aufgewertet, wenn ein 20-jähriger Lebenskünstler gleich viel Geld erhält wie eine Mutter, die zwei Kinder mit Behinderung 40 Jahre lang betreut.» Die Ökonomin sieht in der Idee eher eine «Falle für die Frauen». Sie würden so unter Umständen wieder mehr an die Haus- und die Familienarbeit gebunden, als das aktuell der Fall sei: «Das Ganze erinnert mich an die 1960er- und 1970er-Jahre. Damals wurde den Frauen die Erwerbsarbeit madig gemacht mit dem Argument, dass es sich finanziell nicht lohne, zu arbeiten. Das könnte mit dem Grundeinkommen wieder passieren.»

Monika Bütler findet, man müsse bei der unbezahlten Arbeit nicht nur beim Lohn ansetzen. Wichtiger sei die Frage, wer diese Arbeit leiste. «Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen können wir uns weiter um diese Frage drücken – unter dem Vorwand, dass die Arbeit ja entschädigt wird.» Was natürlich nicht stimme, da man das Grundeinkommen ja bedingungslos erhalte und eben gerade nicht explizit für die geleistete Care-Arbeit. «Die Frage, wer die Fürsorgearbeit leistet, bleibt ein Machtspiel.»

Katja Rost, Soziologin
Die 42-Stunden-Woche in der Schweiz ist ein echtes Problem. In skandinavischen Ländern, wo die Erwerbsarbeitszeit reduziert wurde, funktioniert sowohl die Vereinbarkeit wie auch die Aufteilung der Care-Arbeit besser.

Es geht also nicht nur um Geld, sondern auch um Macht und …

«Zeit!», findet die Soziologin Katja Rost. Ihrer Meinung nach sorgt Geld allein noch nicht für eine Umverteilung der Care-Arbeit: «Wenn ein Mann gut verdient und eine Frau die Familienarbeit übernimmt, werden sich diese Rollen nicht ändern, nur weil die Frau für ihre Arbeit ein Grundeinkommen bekommt.» Wichtiger sei, dass die Menschen – also Frauen und Männer – genügend Zeit hätten, um sich um die Familie und den Haushalt zu kümmern. «Die 42-Stunden-Woche in der Schweiz ist diesbezüglich ein echtes Problem. In skandinavischen Ländern, wo die Erwerbsarbeitszeit reduziert wurde, funktioniert sowohl die Vereinbarkeit wie auch die Aufteilung der Care-Arbeit besser.»

Dann würde das Grundeinkommen den Frauen doch nichts bringen?

Das ist schwierig zu sagen. Katja Rost sieht im Grundeinkommen einen Ansatz: «Durch ein Grundeinkommen können neue Möglichkeiten entstehen. Es bleibt aber ein Tropfen auf den heissen Stein und wird die Asymmetrien in puncto Lohnungleichheit und Verteilung der Care-Arbeit nicht ganz beheben können.» Elli von Planta argumentiert hier anders. Sie plädiert für ein Umdenken: «Wir müssen uns doch fragen: Ist es wirklich so viel sinnvoller, einen unterbezahlten und/oder stumpfsinnigen Shit-Job zu machen, als Zeit in die Erziehung und Pflege unserer Kinder zu investieren?» Wenn diese Zeit zumindest in einem gewissen Mass entschädigt werde, würde diese Arbeit gesellschaftlich einen anderen Stellenwert erhalten und an Attraktivität gewinnen – auch für Männer.

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Übrigens, warum reden wir eigentlich erst jetzt über Geld für Care-Arbeit?

Das tun wir nicht. Schon in den 1970er-Jahren forderten Feministinnen «Lohn für Hausarbeit». Mit der Begründung, die Fürsorgearbeit bilde die Grundlage des Marktes und unserer Gesellschaft. Denn jeder Mensch müsse erst geboren, gepflegt, erzogen und geliebt werden, bevor er im ökonomischen Sinne produktiv sein könne. Die Aktivistinnen von damals kritisierten, dass die Fürsorgearbeit keine Anerkennung erhalte – weder ökonomisch noch gesellschaftlich. Bis heute, also rund 50 Jahre später, hat sich daran kaum etwas geändert.

Ob sich die Schweiz dieser Diskussion jetzt im Rahmen der Debatte ums Grundeinkommen stellen wird und will, zeigt sich in den nächsten Monaten. Um die Initiative zur Abstimmung zu bringen, müssen bis Ende Jahr 100‘000 Unterschriften zusammenkommen. Ende August waren es erst 40‘000.

Der nationale Vorstoss ist nicht der einzige, der sich mit dem Thema Grundeinkommen befasst. In der Stadt Zürich wird am 25. September über einen wissenschaftlichen Pilotversuch zum Grundeinkommen abgestimmt. Ähnliche Projekte gibt es in den Städten Bern und Luzern.