«Ein Gast machte mir einmal ein Kompliment zu meinen Tätowierungen. Noch bevor ich mich fertig bedanken konnte, schob er mein T-Shirt hoch, um mehr zu sehen», erzählt Daniela*. Sie arbeitet in einer Bar in einer mittelgrossen Stadt im Aargau. Solche Belästigungen kämen ab und zu vor, erzählt sie. «Ich bin aber zum Glück ziemlich schlagfertig und sage den Gästen, dass sie gehen sollen, wenn sie sich daneben benehmen.» Ihre Tattoos seien keine Einladung, antwortete Daniela dem stark alkoholisierten 50-Jährigen damals, sie wolle nicht angefasst werden. Der Gast verliess die Bar kurz danach freiwillig.

Probleme mit sexueller Belästigung gebe es in der Gastronomiebranche keine, liess der Arbeitgeberverband des Gastgewerbes Gastrosuisse jedoch Ende Dezember in der NZZ verlauten. Es dränge sich daher kein Handlungsbedarf auf. Bloss: Die Realität spricht eine andere Sprache, das zeigen die Geschichten der drei Frauen, mit denen elleXX gesprochen hat. Sie stehen stellvertretend für unzählige Erfahrungen mit Belästigungen, denen Frauen in der Gastronomiebranche täglich ausgesetzt sind.

Janina*
Wenn ich das Tablett auf dem Tisch abstellte, rückten die Gäste mit ihren Stühlen so eng zusammen, dass ich praktisch eingeschlossen war. Und dann kamen die dummen Sprüche. Ich fühlte mich so erniedrigt und vor allem hilflos.

«Geniess die Komplimente doch, so lange du noch jung bist»

Angefasst wurde Janina* während der Arbeit zwar nie, trotzdem hat sie einen ihrer Nebenjobs in einem Landgasthof im Kanton Luzern zu Studienzeiten in schlechter Erinnerung: «Die Stammgäste haben jeweils laut darüber gesprochen, wie viele Zentimeter wohl mein Bauchumfang misst. Und dann haben sie gesagt, dass das jemand von ihnen mal überprüfen sollte und mich gefragt, bis wann ich denn heute arbeite.» Die Gäste waren zwischen 50 und 70 Jahre alt, Janina war damals 16. War ihre Schicht abends zu Ende, hoffte sie, keinen der Stammgäste vor dem Hof anzutreffen. Den Weg zum Bahnhof ging sie allein und schnellen Schrittes.

Besonders schlimm sei es jeweils gewesen, wenn sie alleine grosse Tische habe bedienen müssen, erzählt sie: «Wenn ich das Tablett auf dem Tisch abstellte, rückten die Gäste mit ihren Stühlen so eng zusammen, dass ich praktisch eingeschlossen war. Und dann kamen die dummen Sprüche. Ich fühlte mich so erniedrigt und vor allem hilflos.» Die Erinnerung daran ist noch heute, gut acht Jahre später, so präsent für Janina, dass es sie beim Erzählen schüttelt.

Ihrer Chefin habe sie nie davon erzählt, wie sehr sie diese Belästigungen mitnehmen. Auch deshalb nicht, weil diese jeweils selbst mitgelacht habe, wenn die Stammgäste ihre «Witze» über Janina machten: «Sprüche wie: ‹Zapfst du mir eine Stange, junge Dame?› waren an der Tagesordnung. Meine Chefin sagte dann zu mir: ‹Geniess die Komplimente doch, so lange du noch jung bist. Wenn du so alt bist wie ich, sagt niemand mehr so etwas zu dir.›»

Zuerst Belästigungen, dann Schmerzensgeld

Auch Selina* kennt das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Sie arbeitete drei Jahre lang bei einer Restaurantkette im Kanton Zürich. Belästigt wurde sie nicht von den Gästen, sondern von ihren Arbeitskollegen. Und von derjenigen Person, die eigentlich für Selinas Schutz zuständig gewesen wäre: ihrem Chef. «Es fing an mit blöden Sprüchen, aber irgendwann fühlten sich meine Kollegen so sicher, dass sie mir während der Schicht an die Brüste und zwischen die Beine fassten. Natürlich immer nur so kurz, dass es niemand mitbekam.» Und oft auch im toten Winkel der Überwachungskameras. Selina wehrte sich, sagte, sie sollen damit aufhören, den Tränen nahe. Und wurde ausgelacht.

Auch die Belästigungen ihres Chefs fingen schleichend an: Einmal griff er nach einem Kugelschreiber in der Brusttasche von Selinas Bluse und streifte währenddessen mit seiner Hand ihre Brüste. Später, während einer gemeinsamen Schicht an der Bar, drängte er Selina in den Hinterraum, hielt die Klapptür zu und sagte, sie solle nach der Schicht doch noch ein bisschen bei ihm bleiben. Er liess erst von ihr ab, als Selina die Klapptür mit voller Wucht gegen sein Schienbein knallte.

Selina*
Ich wurde von Anfang an gewarnt von Frauen, die früher in diesem Restaurant gearbeitet hatten. ‹Pass dann auf beim Chef und bei gewissen Mitarbeitern, die fassen einen gerne mal an›, haben sie gesagt.

Selina meldete die Übergriffe schliesslich der Personalchefin. Statt Hilfe erhielt sie kurze Zeit später die Kündigung. «Es hiess immer wieder, ich hätte Dinge falsch gemacht, die einfach nicht stimmen», erzählt sie. Aus Angst vor ihrem Chef und den Arbeitskollegen habe sie die schriftlichen Verwarnungen aber jeweils unterschrieben. Und nach der vierten erhielt sie schliesslich die Kündigung. Selina zog den Fall vor die Schlichtungsbehörde, die Leitung des Restaurants wurde dafür gerügt, nichts gegen die Belästigungen unternommen zu haben. Man einigte sich auf Schmerzensgeld im höheren dreistelligen Bereich – und Selina unterschrieb eine Schweigepflichtserklärung. Deshalb erzählt auch sie ihre Geschichte anonym. «Ich wurde von Anfang an gewarnt von Frauen, die früher in diesem Restaurant gearbeitet hatten. ‹Pass dann auf beim Chef und bei gewissen Mitarbeitern, die fassen einen gerne mal an›, haben sie gesagt.» Offenbar ist Selina also nicht das erste Opfer.

Betroffene brauchen ein sicheres Arbeitsumfeld

Dass es auch anders ginge, zeigt ein Erlebnis von Daniela in der Bar im Aargau: Ein betrunkener Gast stand am Tresen, wollte bestellen und schrie lauthals «Hey, Schnegge!» in ihre Richtung. «Mein Chef hat an diesem Abend mit mir zusammen gearbeitet. Er ging sofort zu diesem Mann hin und sagte ihm, dass er die Bar verlassen solle, weil sein Verhalten gar nicht geht.» Das Gefühl, dass sich jemand für sie einsetzt und klarmacht, dass sexistische Sprüche nicht toleriert werden, habe ihr Sicherheit gegeben, erzählt Daniela.

Auch Janina lernte eine andere Welt in der Gastronomiebranche kennen. Sie wechselte die Arbeitsstelle, arbeitete danach als Kellnerin in einem Betrieb in einer Stadt und traf auf das komplette Gegenteil dessen, was sie bis anhin vom Landgasthof kannte: «Meine neue Chefin sagte mir von Anfang an, dass ich die Grenzen setze und entscheide, wenn mir etwas zu viel ist.» Sie habe jederzeit Gäste, die sich daneben benahmen, des Lokals verweisen dürfen. «Ich musste niemandem Rechenschaft ablegen, musste nicht einmal erzählen, was passiert war, wenn ich nicht wollte. Mir wurde bedingungslos geglaubt und vertraut.»

Erst dadurch habe Janina gemerkt, wie schlimm ihre frühere Arbeitssituation für sie gewesen war: «Wenn ich heute daran denke, für wie viele eklige ‹Komplimente› ich mich als 16-Jährige bedankt habe weil ich dachte, das sei normal, wird mir schlecht.» Es brauche dringend Prävention, ein sicheres Umfeld, gerade für junge Frauen in der Gastronomiebranche. Dies müsse von den Arbeitgebenden kommen, findet Janina: «Das Perverse in der Gastronomie ist, dass du dich schlichtweg nicht wehren kannst, wenn du keine Unterstützung von deinen Vorgesetzten hast. Wenn es heisst, dass der Kunde König ist, dann ist das tatsächlich so.»

Lenka*
Sexuelle Belästigungen sind ein Riesenproblem in unserer Branche. Und das Thema macht gleichzeitig auf andere strukturelle Ungerechtigkeiten aufmerksam, weil die miteinander verbandelt sind

Besserer Schutz gehört in einen GAV

Dass Belästigungen in der Gastronomiebranche nicht nur weit verbreitet sind, sondern zu grossen Teilen auch toleriert werden, liegt auch an der finanziellen Abhängigkeit. Und zwar zweifach: Einerseits sind gerade ländliche Betriebe abhängig von ihren Stammkunden. Und andererseits brauchen die Angestellten das Trinkgeld, sagt Lenka* vom Gastra Kollektiv Zürich Luzern. Das selbstorganisierte Bündnis tritt anonym auf, die Mitglieder organisieren sich unter anderem gegen schlechte Arbeitsbedingungen und sexuelle Belästigung in der Gastronomiebranche. Je nachdem mache das Trinkgeld bis zu tausend Franken im Monat zusätzlich aus, erzählt sie: «Weil die Bezahlung in der Gastronomiebranche im Stundenlohn so schlecht ist, sind viele auf diesen Zustupf angewiesen.» Je nach Grösse des Betriebs und je nachdem, ob man in einem Saisonbetrieb arbeitet, liegen die Einstiegslöhne zwischen 20 und 30 Franken pro Stunde.

«Sexuelle Belästigungen sind ein Riesenproblem in unserer Branche. Und das Thema macht gleichzeitig auf andere strukturelle Ungerechtigkeiten aufmerksam, weil die miteinander verbandelt sind», sagt Lenka. Viele Betroffene trauen sich nicht, sich zu wehren. Es sei deshalb sehr wichtig, dass Arbeitgeber:innen ihren Angestellten klarmachen, dass sexuelle Belästigungen unter keinen Umständen geduldet werden. Dass die Angestellten selbst ihre Grenzen setzen und übergriffige Gäste vor die Tür stellen dürfen. «Es braucht zudem ein besseres Arbeitsrecht für die Arbeitnehmenden», führt Lenka aus.

Das Gleichstellungsgesetz hält zwar fest, dass das Gericht oder die Verwaltungsbehörden Entschädigungen sprechen dürfen, wie das etwa im Fall von Selina geschehen ist. Arbeitgeber:innen sind jedoch gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Angestellten vor solchen Belästigungen zu schützen. Dieser Schutz umfasst zum einen Massnahmen der Prävention und zum anderen das Eingreifen, wenn ein Fall von sexueller Belästigung vorliegt. Im Gesamtarbeitsvertrag des Schweizer Gastgewerbes fehlt eine solche spezifische Verankerung. «Diese Punkte gehören aber unbedingt in einen Gesamtarbeitsvertrag, gerade in der Gastronomiebranche», findet Lenka.

Lenka*
Dass die Leute keine Lust mehr haben, in der Gastronomie zu arbeiten, liegt nicht nur an den unattraktiven Arbeitsbedingungen, sondern auch an den Belästigungen.

Fachkräftemangel auch wegen Belästigungen

Theoretisch sitzen Angestellte momentan am längeren Hebel: Der Employment Outlook 2022 der OECD zeigte, dass der Lebensmittel- und Unterbringungssektor neun Prozent weniger Angestellte hat als noch 2019. Gemäss diesem Bericht ist die Schweiz eines von drei Ländern, in welchen Tieflohnsektoren die grösste Mühe haben, die Zahl der Mitarbeitenden auf das Niveau von vor der Pandemie zu bringen. «Dass die Leute keine Lust mehr haben, in der Gastronomie zu arbeiten, liegt nicht nur an den unattraktiven Arbeitsbedingungen, sondern auch an den Belästigungen. Das wissen wir von unseren Mitgliedern im Kollektiv», sagt Lenka.

Iris Wettstein, GastroSuisse
Im Bereich Gastronomie und Hotellerie sind uns keine Fälle bekannt. Es drängte sich auch kein Handlungsbedarf auf.

Es brauche aber auch einen gesellschaftlichen Wandel: «Menschen, die in der Gastronomie arbeiten, werden oft noch immer sehr abschätzig behandelt. Ich habe einen Abschluss in dieser Branche und arbeite gern in meinem Beruf. Trotzdem werde ich häufig gefragt, was ich denn nebenher studiere», sagt Lenka. Die Menschen, die uns unser Essen servieren, unsere Getränke nachschenken und unsere Reste abräumen, verdienen mehr gesellschaftlichen Respekt, führt sie aus. Dieser sei wichtig, damit auch innerhalb der Branche eine Veränderung stattfinden kann: «Wer respektiert wird, hat ein stärkeres Selbstbewusstsein – und setzt sich eher zur Wehr.»

Beim Arbeitgeberverband Gastrosuisse ist man übrigens nach wie vor der gleichen Meinung wie im vergangenen Dezember. Auf Anfrage von elleXX, mit dem Vermerk, dass im Artikel Frauen von übergriffigen Erfahrungen erzählen, antwortet die Kommunikationsspezialistin Iris Wettstein: «Im Bereich Gastronomie und Hotellerie sind uns keine Fälle bekannt. Es drängte sich auch kein Handlungsbedarf auf.»

*Namen der Redaktion bekannt

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