Opfer: Ich wurde vergewaltigt.

Alle anderen: Hmm, bist du dir sicher? Hast du dich gewehrt? Hast du klar genug 'Nein' gesagt? Hast du Beweise? Gibt es Zeugen? Hast du getrunken? Drogen genommen? Hast du mit ihm geflirtet?

***

Täter: Ich hab es nicht getan.

Alle anderen: Ok. Wir glauben dir.

Ist diese Darstellung übertrieben? Vielleicht. Eine  wahre Geschichte ist aber diese: Eine Frau wurde vergewaltigt und erstattete Anzeige. Bei der Einvernahme wurde sie von der Polizistin gefragt, ob sie die Telefonnummer des Beschuldigten habe. Sie verneinte. Daraufhin fragte die Polizistin, wieso sie zu einem Mann nach Hause gegangen sei, dessen Telefonnummer sie nicht mal kenne?

Ich behaupte: Egal wie sich eine Frau vor einem Übergriff verhält, sie kann es nicht recht machen: sie war zu aufreizend, hat zu schnell vertraut, war zu sexy gekleidet, sie war naiv, zu verletzlich, dumm, hat schlechte Entscheidungen getroffen, zu viele Risiken in Kauf genommen, zu viel getrunken, stieg allein ins Taxi, hat geflirtet oder ihr Getränk unbeobachtet stehen gelassen.

Agota Lavoyer
Egal wie sich eine Frau vor einem Übergriff verhält, sie kann es nicht recht machen: sie war zu aufreizend, hat zu schnell vertraut, war zu sexy gekleidet, sie war naiv, zu verletzlich, dumm, hat schlechte Entscheidungen getroffen, zu viele Risiken in Kauf genommen, zu viel getrunken, stieg allein ins Taxi, hat geflirtet oder ihr Getränk unbeobachtet stehen gelassen.

Auch während der Tat verhält sich das Opfer in den Augen vieler Menschen falsch: sie habe nicht klar genug ‘Nein’ gesagt, sich nicht gewehrt, den Raum nicht verlassen, ja sie habe nicht einmal um Hilfe geschrien. Und egal, was sie nach der Tat macht – alles ist falsch: Keine Anzeige gemacht? Ihre Schuld, wenn es weitere Opfer gibt. Sie hat ihn angezeigt? Die Rachsüchtige will sein Leben zerstören. Sie ist psychisch zusammengebrochen? Sie war wohl vorher schon labil. Sie liess sich nichts anmerken? So konnte es wohl auch nicht so schlimm gewesen sein. Sie hat niemandem von der Tat erzählt? Wahrscheinlich ist gar nie etwas passiert. Sie hat von der Tat erzählt? Es geht ihr einzig und allein um die Aufmerksamkeit.

Merkt ihr, was ich meine? Es hat System. «Victim Blaming» nennt sich das, wenn ein Opfer mitverantwortlich gemacht wird für die ihm angetane Gewalt. Und Victim Blaming ist inhärenter Teil einer Rape Culture, die dazu führt, dass sexualisierte Gewalt bagatellisiert wird und Opfer abgewertet und Täter entlastet werden.

Wir haben klare Bilder im Kopf, wie ein Opfer sich zu verhalten hat, damit wir ihm glauben. Das ist beschämend. Zumal viele von uns wahrscheinlich keine Ahnung haben, wie es ist, Opfer von sexualisierter Gewalt geworden zu sein.

Wir fokussieren uns lieber auf das Opfer und sein Verhalten, in der Hoffnung, dass es uns Antworten liefert auf die drängende Frage, wie sexualisierte Gewalt vermindert werden kann. Dies bestätigt auch der Blick in die immer noch gängige Präventionspraxis. Überspitzt gesagt: Wir lehren Mädchen, was sie tun müssen, um nicht vergewaltigt zu werden, statt Buben zu lehren, nicht zu vergewaltigen. Dabei ignorieren wir zwei entscheidende Punkte. Erstens: Sexualisierte Gewalt wird nicht durch das Verhalten der Frau provoziert, sondern ist für gewalttätige Männer Teil ihres Konstrukts von Männlichkeit. Zweitens: Egal wie fest sich Mädchen und Frauen im Leben einschränken, sie sind trotzdem nicht sicher vor Männergewalt.

Agota Lavoyer
Wir lehren Mädchen, was sie tun müssen, um nicht vergewaltigt zu werden, statt Buben zu lehren, nicht zu vergewaltigen.

Verschieben wir also den Fokus auf den Mann. Dem Mann traut die Gesellschaft nicht zu, was sie schon einem Kind zutraut: dass er ein «Nein» versteht. Männer müssen offenbar nicht wissen, was sexuelle Grenzen sind, noch dass es notwendigerweise einen Konsens braucht für sexuelle Handlungen. Statt sein übergriffiges Verhalten konsequent zu verurteilen, erhält der Mann eine subtile Form von Verständnis.

Das führt dazu, dass sich viele Männer mehr Sorgen machen, wie sie als Männer von den Vorwürfen sexualisierter Gewalt eingeschränkt werden, statt sich darum zu sorgen, wie sehr das Ausmass sexualisierter Gewalt die Frauen einschränkt. Einige Männer versuchen, sexualisierte Gewalt als geschlechtsneutrales Problem darzustellen. Ja, es stimmt: Auch Männer und erst recht Buben erfahren sexualisierte Gewalt. Trotzdem darf nicht geleugnet werden, dass Mädchen und Frauen unverhältnismässig stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Auch das führt zu einer Verharmlosung der Problematik. Meine Erfahrung ist übrigens, dass diejenigen, die am lautesten «Und was ist mit den Männern?!» rufen, nicht diejenigen sind, die sich wirklich um männliche Opfer kümmern. Im Weltbild dieser Männer können Männer gar nicht Opfer werden. Vielmehr geht es diesen Männern darum, Frauen abzuwerten und ihre Gewalterfahrungen zu bagatellisieren.

Agota Lavoyer
Dem Mann traut die Gesellschaft nicht zu, was sie schon einem Kind zutraut: dass er ein «Nein» versteht. Männer müssen offenbar nicht wissen, was sexuelle Grenzen sind, noch dass es notwendigerweise einen Konsens braucht für sexuelle Handlungen.

Bei keinem anderen Delikt klafft die Schere zwischen dem, was Opfer erleiden, und dem, was sie in ihrem Umfeld, geschweige denn bei den Strafverfolgungsbehörden offenlegen, derart weit auseinander, wie bei sexualisierter Gewalt. Bei keinem anderen Delikt haben Opfer so grosse Angst, über die Tat zu erzählen oder Anzeige zu erstatten. Und daran ist unsere Gesellschaft schuld. Indem wir Opfern eine Mitverantwortung an der Gewalttat auferlegen und damit Täter entlasten, bürden wir dem Opfer Schuld- und Schamgefühle auf. Schuld und Scham sind nicht nur erniedrigende Gefühle. Sie sind auch die besten Freunde des Täters.

Lasst uns also etwas dafür tun, dass Opfer sich gestärkt fühlen, über die Taten offen zu sprechen und die Täter anzuzeigen. Das wäre ein grosser Beitrag zur Prävention.

Was kannst du also tun, wenn dir einmal eine Bekannte anvertraut, dass sie sexualisierte Gewalt erfahren hat?

  1. Glaube ihr. Nicht nur, wenn der Täter ein Fremder ist, sondern auch, wenn er dein bester Freund oder lieber Arbeitskollege ist.
  2. Hilf ihr, die Tat als das einzuordnen, was es ist: als sexualisierte Gewalt.
  3. Sag ihr, dass sie keine Schuld trifft. Dass die Verantwortung für die Gewalttat einzig und allein beim Täter liegt.
  4. Stell ihr Verhalten vor, während und nach der Tat nicht in Frage. Vielleicht hilft es dir, dir bewusst zu machen, dass wie auch immer sie sich verhalten hat oder verhält: es ist ihre Überlebensstrategie, um die Tat psychisch überleben zu können.
  5. Hilf ihr, damit sie die Unterstützung erhält, die sie braucht. Sei es eine Beratung bei der Opferhilfe, eine Therapie, ein Gespräch bei einer Anwältin oder schlicht Empathie und ein offenes Ohr.
elleXX Rechtsschutz
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