«Für eine lange Zeit war ich mir nicht sicher, ob das, was ich erlebte, wirklich schlimm genug war. Schlimm genug, um mir Hilfe zu holen», erzählt Zora. Sie heisst in Wirklichkeit anders und möchte anonym bleiben. Ihre Geschichte steht aber exemplarisch dafür, was viele Betroffene von häuslicher Gewalt empfinden: Scham, Angst und Unsicherheit. Einige Menschen in ihrem Leben, so die junge Frau, hätten ihr gar gesagt, dass ihre Lage nicht so schlimm sei: «Es dauerte Monate, bis ich mich selber davon überzeugen konnte, dass ich Hilfe brauche. Und dann dauerte es nochmals ein Weilchen, bis ich wirklich etwas an meinem Leben änderte». Für und mit Frauen wie Zora hat die Bernerin Rhiana Spring «Sophia» entwickelt: Ein Chatbot, der Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bietet.

Betroffene können mit «Sophia» über eine Webseite, Telegram oder Viber kommunizieren, weitere Apps sollen folgen. Das Gesprächsprogramm basiert auf künstlicher Intelligenz und gibt vorbereitete Ratschläge, an wen sich die Frauen wenden oder welche Massnahmen sie selber treffen können – ohne sich in Gefahr zu begeben. «Sophia» hinterlässt keine Spuren: Der Chatverlauf wird fortlaufend gelöscht und die Frauen erhalten Hilfe dazu, wie sie den Browserverlauf löschen können. Darüber hinaus macht es «Sophia» möglich, Beweise von physischer oder psychischer Gewalt zu sammeln: Das können Fotos von Wunden sein, Sprachnachrichten mit Beschimpfungen oder Dokumente, die finanzielle Abhängigkeiten bezeugen. Die Dateien werden auf einem sicheren Server gespeichert. Wie wichtig das ist, zeigt die Geschichte einer anderen betroffenen Frau, nennen wir sie Hanna. «Als ich Sophia dringend gebraucht hätte, gab es sie noch nicht. In meinem Fall war es so, dass ich keine Beweise für den Missbrauch liefern konnte – also war offiziell auch nicht passiert. Aber es ist passiert. Und es gab keine Hilfe». Für Hanna war es zu spät: «Aber Sophia könnte die Antwort sein für so viele andere Frauen, die nach mir kommen».

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Finanzieller Missbrauch als erste Stufe

Dass sie sich in einer missbräuchlichen Beziehung befinden, stellen viele Betroffene erst spät fest, erklärt Spring: «Gerade finanzieller Missbrauch fängt schleichend an». Der Partner erkläre der Frau etwa, dass es doch bequemer sei, nur ein gemeinsames Konto zu haben. Oder dass sie sich nicht um ihre Finanzen zu kümmern brauche, er übernehme das gerne für sie – aus Liebe. «Solche Geschichten hören wir oft», sagt Spring. «Und irgendwann merkst du, dass du selber gar kein Geld mehr hast und komplett von deinem Partner abhängig bist.»

Wie viele Betroffene von häuslicher Gewalt es in der Schweiz genau gibt, ist unklar. Zwar werden die Fälle in den entsprechenden Bundesstatistiken erfasst: 2019 wurden knapp 20’000 Fälle registriert, das waren 6.2 Prozent mehr als im Vorjahr. Alle zwei Wochen stirbt eine Person an den Folgen von häuslicher Gewalt. In fast 75 Prozent der Fälle sind die Opfer Frauen, man spricht dann von Femiziden. Häusliche Gewalt fängt aber schon lange vor physischen Angriffen oder gar Tötungen an. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, da sich viele Betroffene vor allem zu Beginn zu sehr schämen, sich zu wehren oder die Übergriffe zur Anzeige zu bringen.

Ein Teil der NGO Kona Conect im Büro in Bern, von links nach rechts: Juristin Rhiana Spring, stellvertretende Direktorin Ndeye Diodio Calloga und Chefingenieurin Giada Fallo.
Rhiana Spring, Juristin und Gründerin von «Sophia»
«Und irgendwann merkst du, dass du selber gar kein Geld mehr hast und komplett von deinem Partner abhängig bist.»

Der Lockdown hat die Lösung beschleunigt

Wie entstand die Idee für «Sophia?» Die Technologie dahinter gab es bereits, Spring entwickelt mit ihrer NGO Kona Connect Produkte mit künstlicher Intelligenz, die Menschen in Notlagen helfen – «Sophia» ist das erste Ergebnis. Als Juristin ist Spring auf internationale Menschenrechte spezialisiert und engagiert sich seit Jahren gegen Gewalt an Frauen. Zu Beginn der Pandemie, als Fachstellen davor warnten, dass die Fälle von häuslicher Gewalt ansteigen werden, habe sie mit Freundinnen diskutiert, was man machen kann: «Es war sehr schnell klar, dass eigentlich jede von uns eine Frau kennt, die in einer missbräuchlichen Beziehung war – oder es noch immer ist. Wir haben uns gefragt, wie sich die Pandemie auf sie auswirken wird. Gerade im Lockdown hat man gemerkt, dass viele Frauen nicht einmal mehr telefonieren können, um sich Hilfe zu holen.» Wie soll man telefonieren, wenn der Täter neben einem sitzt?

«Sophia» fällt durchs Raster beim Bund

Die Idee für einen Chatbot für Betroffene von häuslicher Gewalt war also schnell geboren, die Finanzierung hingegen lief schleppend. Zwar waren die ETH Lausanne als Sponsor und private Partner im Silicon Valley dabei, die der NGO ihre Technologie kostenlos zur Verfügung stellten. Der Bund hingegen sprach keine Gelder. Und dies, obwohl der Bundesrat erst im vergangenen Frühling eine nationale Gleichstellungsstrategie bekannt gab – oder zumindest deren Planung. «Wir haben mit diesen Fördergeldern gerechnet, eigentlich erfüllt 'Sophia' alle Kriterien, sie übertrifft diese sogar – dachten wir zumindest», erzählt Spring. Aufgrund eng ausgelegter Richtlinien für diese Gelder fällt der Chatbot aber durchs Raster beim Bund. Die Begründung für die Absage: Das Projekt sei zu wenig stark in der Schweiz verankert. «Klar, bei einem digitalen Produkt ist es schwierig. Wir müssten ‘Sophia’ so verändern, dass man nur mit IP-Adressen aus der Schweiz zugreifen kann», führt Spring aus, «aber genau das wollen wir nicht. Wir wollen, dass Sophia auch auf der ganzen Welt genutzt werden kann.» Wenn Spring über die Absage für die Fördergelder spricht, spürt man die Leidenschaft für ihr Engagement – und ihren Frust: «Eigentlich ist doch etwas im Gang in der Schweiz was die Gleichstellung und den Schutz der Frauen angeht!»

Rund 80 freiwillige Mitarbeitende beschäftigt Spring weltweit seit der Geburt ihrer NGO im Dezember, Programmiererinnen, Aktivistinnen, Marketingspezialistinnen, Juristinnen, Angestellte von Fachstellen – unter ihnen auch Betroffene von häuslicher Gewalt. Und es sollen noch viel mehr werden: «Der Bedarf nach einem solchen Chatbot ist ganz klar da, das bestätigen nicht nur die Fachstellen aus der Schweiz, sondern auch aus anderen Ländern», sagt Spring. «Sophia» spricht Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch, viele weitere Sprachen sollen noch folgen. Noch reicht das bisher gesprochene Geld für Springs Angestellte, ihr eigener Lohn kommt vom Sparkonto und durch die finanzielle Unterstützung ihrer Familie. «Aber lange können wir nicht mehr überbrücken», sagt Spring. In den nächsten Wochen wird die NGO daher ein Mitglieder-Modell aufziehen, ein Crowdfunding wurde vor kurzem gestartet.

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Der Bedarf nach einer niederschwelligen Anlaufstelle ist da: Über 2000 Zugriffe verzeichnet «Sophia» seit Dezember 2021, mehr Daten werden zum Schutz der Betroffenen nicht gespeichert. Auch bei den Fachstellen weiss man nicht genau, welche Frauen wegen «Sophia» kommen: «Wir kennen das Angebot aber und finden es unterstützenswert», sagt Pia Allemann, Co-Geschäftsleiterin der BIF (Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft) in Zürich. Auch für sie ist schwer nachvollziehbar, warum der Bund ein solches Projekt aufgrund einer nicht ganz erfüllten Richtlinie nicht fördert: «Es braucht mehr Angebote für die Betroffenen von häuslicher Gewalt, es braucht dringend eine nationale Strategie. Die Schweiz ist dazu im Rahmen der Istanbul-Konventionen sogar verpflichtet – und ein solcher Chatbot könnte Teil dieser Strategie sein.»

Zora konnte sich übrigens aus ihrer missbräuchlichen Beziehung lösen. Sie hat Hilfe gefunden und ihren Partner verlassen: «Aber es dauerte Monate, bis ich mir Hilfe holte. Ich kann mir nur vorstellen, wie viel schneller es mit Sophia geklappt hätte.»

— So erreichst du Sophia: Via «sophia.chat» im Browser oder in Telegram und Viber nach «Sophia Chatbot» suchen