Gestern hat sich der Ständerat für einen längst fälligen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht ausgesprochen und die «Nein heisst Nein»-Regelung angenommen, inklusive des sogenannten Freezings. Der Entwurf enthält einige sehr wesentliche Verbesserungen gegenüber dem heutigen Gesetz: Allem voran sollen Zwang und Gewalt keine Voraussetzungen mehr sein, damit eine Tat als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung eingeordnet werden kann. Zudem soll anerkannt werden, dass das Opfer im Schockzustand womöglich nicht in der Lage ist, ein «Nein», sei das verbal oder nonverbal, kundzutun. Das bedeutet, dass das Ausnutzen einer Schockstarre als Übergehen des Willens angeschaut wird. Damit wird endlich anerkannt, dass viele Betroffene während der Tat nicht in der Lage sind, ihren entgegengesetzten Willen kundzutun.

Ändern muss sich mehr als ein Gesetz

So möchte ich diesen Tag heute dafür nutzen, aufzuzeigen, welche enorme Kraft in der feministischen Bewegung steckt – und zwar anhand der aktuellen Debatte um den Reformbedarf des Schweizer Sexualstrafrechts. Denn was diesbezüglich in den letzten Jahren in der Schweiz passiert ist, ist für mich ein unglaublich bestärkendes Beispiel dafür, was erreicht werden kann, wenn man geschlossen, solidarisch und vernetzt für eine Sache kämpft.

«Was wir ändern wollen, ist mehr als ein Gesetz – es ist eine Denkweise, eine Kultur, ein System.» Diese Worte, geschrieben von SP-Nationalrätin Tamara Funiciello, erreichten mich im Januar 2020, kurz nachdem ich in einer SRF-Club-Sendung zum Sexualstrafrecht war. Die Sendung war zermürbend, am Tag danach war ich betrübt, ernüchtert und wütend. Nicht nur, weil vieles nicht gesagt werden konnte. Sondern vor allem auch, weil mir erneut bewusst wurde, wo wir anno 2020 standen: An einem Punkt, an dem die offensichtliche, systematische Schutzlücke im Schweizer Sexualstrafrecht immer noch grossflächig ignoriert wurde.

Agota Lavoyer
Es brauchte die feministische Basis, den Feministischen Streik 2019, einen grösseren Frauenanteil im Parlament und Politiker:innen, die dem Thema die Wichtigkeit einräumen, die es verdient. Und es brauchte Frauen, die den Mut und die Stärke hatten, öffentlich ihre Betroffenheit zum Thema zu machen.

Als die Juristin Nora Scheidegger kurz nach Aufkommen der #MeToo-Debatte 2018 ihre Dissertation zum Reformbedarf des Schweizer Sexualstrafrechts veröffentlichte und Amnesty Schweiz 2019 die Kampagne «Stopp sexuelle Gewalt» lancierte, landete das Sexualstrafrecht als politisches Thema endlich auch in der Schweiz in der breiten Öffentlichkeit. Dabei war das Thema damals alles andere als neu. Opferhilfestellen und NGOs wiesen bereits seit Jahren auf die Problematik hin: Der heutige Vergewaltigungstatbestand geht von einem stereotypen Sexualdelikt aus, das in keiner Weise der Realität von sexuellen Übergriffen entspricht. Und unsere Rechtsprechung zementiert Vergewaltigungsmythen, gibt opfer- wie auch frauenfeindlichen Perspektiven Raum und ignoriert die gewandelten sozialen Anschauungen über sexualisierte Gewalt.

Für eine feministische Revolution braucht es viele Einzelne

Aber damit der Reformbedarf des Sexualstrafrechts auch von der Politik debattiert wurde, brauchte es offenbar noch mehr. Es brauchte die feministische Basis, den Feministischen Streik 2019, einen grösseren Frauenanteil im Parlament und Politiker:innen, die dem Thema die Wichtigkeit einräumen, die es verdient. Und es brauchte Frauen, die den Mut und die Stärke hatten, öffentlich ihre Betroffenheit zum Thema zu machen. Und dies trotz dem Hass, der ihnen deshalb entgegenschlug, immer wieder taten und weiterhin tun. Auch ich war in den letzten vier Jahren sehr viel unterwegs: redete auf Podien, hielt Vorträge, war als Expertin in der nationalrätlichen Rechtskommission, schrieb Kolumnen und Gastbeiträge und gab unzählige Interviews – um aufzuzeigen, wieso unser Sexualstrafrecht Betroffene im Stich lässt.

Agota Lavoyer
Der Gesetzesentwurf, dem der Ständerat gestern zugestimmt hat, läutet den von uns erkämpften und längst fälligen Paradigmenwechsel ein.

So entstand in den letzten Jahren in der Schweiz aus der feministischen Bewegung heraus eine Allianz zwischen Aktivistinnen, Betroffenen, Fachpersonen, Politikerinnen und Organisationen, die sehr gut vernetzt, solidarisch und geschlossen für eine Reform des Sexualstrafrechts kämpften. Was diese Allianz erreicht hat, ist einmalig und revolutionär, und das sollten wir am heutigen 8. März auch feiern.

Täterarbeit ist immer auch Opferschutz

Unser Ziel, die Zustimmungslösung («Nur Ja heisst Ja») im Gesetz zu verankern, haben wir heute noch nicht erreicht. Trotzdem finde ich es unglaublich wichtig, anzuerkennen: Der Gesetzesentwurf, dem der Ständerat gestern zugestimmt hat, läutet den von uns erkämpften und längst fälligen Paradigmenwechsel ein.

Ein weiterer längst fälliger, wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist neben dem Anerkennen des «Freezing» nämlich die geschlechtsneutrale Formulierung der Straftatbestände der Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Zu guter Letzt können verurteilte Tatpersonen zusätzlich zur Strafe zu Lernprogrammen und Gewaltberatungen verpflichtet werden – auch schon bei sexueller Belästigung. Denn damit wird einerseits anerkannt, dass der Staat in der Verantwortung ist, weitere Taten zu verhindern (Täterarbeit ist immer auch Opferschutz!), und andererseits verschiebt man damit endlich den Fokus in der Prävention von sexualisierter Gewalt: weg von den Opfern, hin zu den gewaltausübenden Personen.

Wie geht es nun weiter?

Als nächstes kommt der Gesetzentwurf wieder in den Nationalrat. Sollte dieser dem Entwurf zustimmen, wäre ein neues Sexualstrafrecht endlich Realität. Hätten wir dann alles erreicht? Nein. Das Strafrecht ist zwar die Grundlage für die Durchsetzung von Mindeststandards in einer Gesellschaft, denn es hält fest, was in einer Gesellschaft als Recht und  Unrecht gilt. Trotzdem reichen Gesetze allein nicht aus, um einen Kulturwandel herbeizuführen. Der Kampf muss also weitergehen.

Einerseits muss eng verfolgt werden, wie das Gesetz in der juristischen Praxis tatsächlich umgesetzt wird. Gleichzeitig müssen Strafverfahren opfergerechter werden. Das Risiko, durch ein Strafverfahren retraumatisiert zu werden, muss so stark wie möglich eingedämmt werden: Einvernahmen müssen traumasensibler werden, beispielsweise mit Fragen, die nicht mehr als Victim Blaming verstanden werden können. Oder mit Video-Einvernahmen, damit das Opfer beim Sprechen nicht ständig unterbrochen werden muss. Und es braucht spezialisierte Strafverfolgungsbehörden, die entsprechend geschult sind zu sexualisierter Gewalt, Psychotraumatologie und Viktimologie.

Agota Lavoyer
Dieser Kampf um ein zeitgemässes Sexualstrafrecht hat allen, die sich dafür einsetzen, enorm viel abverlangt. In jede neue Diskussion begaben wir uns mit dem Risiko, dass unsere Forderungen erneut abgewertet und lächerlich gemacht werden.

Andererseits braucht es weitere Massnahmen, zum Beispiel mehr Ressourcen für die Opferhilfe, Krisenzentren für Betroffene, in denen sie spezialisierte (rechts-)medizinische und psychologische Soforthilfe erhalten und ganzheitliche, systematische Sexualbildung und spezifische Gewaltprävention in der ganzen Schweiz. Dieser Kampf um ein zeitgemässes Sexualstrafrecht hat allen, die sich dafür einsetzen, enorm viel abverlangt. In jede neue Diskussion begaben wir uns mit dem Risiko, dass unsere Forderungen erneut abgewertet und lächerlich gemacht werden. Wir sahen uns nicht selten mit chauvinistischen, sexistischen und frauenabwertenden Argumenten konfrontiert und mussten gleichzeitig ständig aufpassen, dass sich das meist männliche Gegenüber nicht auf den Schlips getreten fühlt und uns nicht mehr zuhört. Aber schliesslich hat es sich gelohnt.

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