Liebe Frauen, wie würdet ihr reagieren, wenn euch an einem Vorstellungsgespräch die Frage gestellt würde, ob Frauen bei der Arbeit einen BH tragen sollten? Oder ob andere Menschen sie begehrenswert finden? Und was würdet ihr tun, wenn als nächstes die Frage folgt, ob ihr einen Partner habt? Ihr denkt, ihr würdet den Befrager zurechtweisen, ein klares Statement abgeben oder sogar das Gespräch vorzeitig beenden?

Diese Illusion muss ich euch leider nehmen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass ihr alle eines macht: gar nicht reagieren.

Das haben die Teilnehmerinnen einer Studie auch feststellen müssen. Sie wurden zu einem fiktiven Vorstellungsgespräch eingeladen. Dort wurden ihnen, nebst den üblichen Bewerbungsfragen, diese drei sexuell belästigende Fragen gestellt. Eine andere Testgruppe musste in einem Fragebogen beantworten, wie sie an einem Vorstellungsgespräch auf die gleichen Fragen reagieren würden. Was dabei herauskam, ist höchst interessant und liefert uns einen weiteren Erklärungsansatz für die Stigmatisierung von Betroffenen sexualisierter Gewalt. Die Mehrheit der Frauen ging davon aus, dass sie den Belästiger konfrontieren würden: 62 Prozent gaben an, sie würden ihn darauf hinweisen, dass die Frage inadäquat ist, 28 Prozent gaben an, sie würden den Befrager zurechtweisen und das Vorstellungsgespräch sofort verlassen. Auch interessant: Die grosse Mehrheit der Frauen ging davon aus, dass sie mindestens eine der drei Fragen nicht beantworten würden. Soweit alles nachvollziehbar. Und was passierte bei den Frauen, die sich tatsächlich in den belästigenden Situationen befanden? Ihr ahnt es: nichts von all dem. Die Studie hat aufgezeigt, dass Frauen, entgegen ihrer eigenen Erwartungen, sexuelle Sprüche oder Belästigung oft ignorieren. Alle Teilnehmerinnen haben die drei Fragen beantwortet, keine der Frauen hat den Belästiger konfrontiert oder zurechtgewiesen, keine hat den Raum verlassen.

Agota Lavoyer
Frauen, entgegen ihrer eigenen Erwartungen, ignorieren sexuelle Sprüche oder Belästigung oft - anstelle den Belästiger zu konfrontieren zurechtzuweisen oder den Raum zu verlassen.

Auch wenn es aus ethischer Sicht fraglich ist, Frauen im Rahmen einer Studie von einem Mann belästigen zu lassen, sind die Resultate unheimlich wichtig. Sie zeigen auf, dass es sehr typisch ist, sich zu überschätzen, wenn es um die eigene Reaktion auf sexualisierte Übergriffe geht. Ich mag mich gut erinnern, was ich schon als Jugendliche gelernt habe: Wenn ein Mann deine Grenzen überschreitet, dann stösst du ihm dein Knie zwischen die Beine und schon bist du safe. Das schaffe ich, dachte ich. Weit gefehlt, weiss ich heute, 25 Jahre später. Und so wie mir geht es den meisten Frauen. Wir stossen kein Knie zwischen die Beine, verteilen keine Ohrfeigen, schreien und konfrontieren nicht. Sondern wir schweigen, zumindest meistens. Und schämen uns danach für unser Schweigen, weil wir überzeugt sind, dass alle anderen sich gewehrt hätten. Wären wir nicht so überzeugt von unseren mustergültigen Reaktionen auf sexualisierte Übergriffe, würden wir andere, die sich nicht wehren, nicht derart verurteilen und damit die Rape Culture aufrechterhalten.

elleXX Rechtsschutz
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Eine der Hauptgründe, wieso viele Frauen sich nicht gegen sexuell belästigendes Verhalten wehren, hat oben genannte Studie auch klar aufgezeigt. Gefragt nach den Gefühlen, die solche Fragen auslösen würden, gaben fast alle Frauen im Fragebogen an, dass sie wütend wären. Wut wäre in der Tat enorm hilfreich in solchen Situationen, da sie dazu verhilft, sich gegen Gefahr und Ungerechtigkeit zu wehren. Abgesehen davon wäre Wut ein sehr adäquates Gefühl gegenüber sexuell übergriffigen Menschen.

Aus meiner Beratungserfahrung weiss ich aber: Das vorherrschende Gefühl ist nicht Wut, sondern Angst. Das zeigte auch die Studie auf. Während von den Frauen, die den Fragebogen ausfüllten, nur gerade mal zwei Prozent davon ausgingen, dass sie Angst hätten in so einer Situation, berichteten fast die Hälfte der Probandinnen nach dem Vorstellungsgespräch, dass sie Gefühle der Angst hatten. Je mehr Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht ein Mensch in einer Situation empfindet, desto weniger setzt er sich zur Wehr. Sexuelle Belästigung löst Angst aus. Und wir dürfen Betroffenen, sei es von sexualisierten (oder auch von rassistischen) Übergriffen ihre Gefühle weder absprechen noch kleinreden. Vielmehr sollten wir uns mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass wir in der gleichen Situation womöglich auch Angst statt Wut empfinden würden. Und dass das ganz normal wäre.

Agota Lavoyer
Je mehr Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht ein Mensch in einer Situation empfindet, desto weniger setzt er sich zur Wehr.

Zweifellos ist es hilfreich, wenn Menschen lernen, wie sie sich in einer belästigenden Situation verhalten können. Noch wichtiger ist es jedoch, dass sie wissen, dass es auch okay ist, den Belästiger zu ignorieren und möglichst schnell aus der Situation rauskommen zu wollen. Und dass sie nicht verpflichtet sind, auf eine bestimmte und durchdachte Art zu reagieren. Viel wichtiger, als die Frage nach der Reaktion von Betroffenen, ist, dass Aussenstehende reagieren und den Belästiger mit seinem Verhalten konfrontieren.

Diese Diskrepanz zwischen vermuteter und tatsächlicher Reaktion bei sexualisierten Übergriffen spricht Bände darüber, wieso Betroffenen wegen der fehlenden Gegenwehr so oft eine Mitschuld am Übergriff gegeben wird.

Die Überschätzung von Betroffenen hat schlussendlich auch dazu geführt, dass nicht nur in der breiten Gesellschaft, sondern auch von Staatsanwaltschaften und Gerichten vermeintlich untypisches Opferverhalten bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit berücksichtigt wird, obwohl mittlerweile hinlänglich bekannt ist, dass es das typische Opferverhalten bei sexualisierten Übergriffen nicht gibt. Während es also durchaus adäquat wäre, dass Frauen mehr Wut empfinden würden, wenn ihre sexuelle Integrität verletzt wird, sollten wir Frauen nicht dafür bestrafen, wenn sie es nicht tun. Hören wir auf, Opferverhalten zu überschätzen und damit die Wirkung sexualisierter Übergriffe zu unterschätzen. Und Frauen sollen nicht länger die Verantwortung für die “richtige” Reaktion auf einen sexualisierten Übergriff tragen.