Südafrika hat mich schon immer interessiert. Als Kind demonstrierte ich mit meiner Mutter für die Freilassung Nelson Mandelas, heute bin ich ein grosser Fan des Comedian Trevor Noah. Ich mag südafrikanische Housemusik, lese leidenschaftlich die Bücher von Autorinnen wie Pumla Gqola und weiss so ziemlich alles über den «Langen Weg zur Freiheit» der Schwarzen Bevölkerungsmehrheit. Dass das Land am Kap von Afrika den Weg  aus der Apartheid ohne Bürgerkrieg geschafft hat, erstaunt mich immer wieder aufs Neue. Eine Reise ans Kap von Afrika stand daher schon lange auf meiner To-do-Liste.

Rosanna Grüter
Bereits als kleines Mädchen habe ich gelernt: Weiblichkeit macht unfrei.

Trotz meiner Faszination für Südafrika war ich weit davon entfernt, meine Reise blauäugig und naiv anzutreten. Selbstverständlich weiss ich, dass Südafrika grosse Probleme hat! Die Kriminalitätsrate ist himmelhoch, die Korruption der Regierungs- und ehemaligen Revolutionspartei ANC legendär, und die Schere zwischen Arm und Reich könnte weiter geöffnet nicht sein. All das wusste ich. Ebenso war ich darauf vorbereitet, als weisse Person in Südafrika nicht besonders beliebt zu sein, und zudem als Frau besonders gefährdet.  

Bereits als kleines Mädchen habe ich gelernt: Weiblichkeit macht unfrei. Als kleinstes Mädchen der Klasse wurde ich oft von älteren Schülern gequält, und auf dem Spielplatz mussten ich und meine Freundinnen stets auf der Hut sein vor «bösen Männern». Meinen ersten Exhibitionisten sah ich, als ich ca. 8 Jahre alt war, unzählige weitere folgten.

Ich lernte schnell, dass ich mein Geschlecht wie eine Zielscheibe auf dem Rücken trage – eine Erkenntnis, die traurigerweise überall auf der Welt Gültigkeit hat.

Was ich nicht wusste: Dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts fast nirgends so gefährdet sind wie in Südafrika, nicht mal in Kriegsgebieten. Und dass mir deshalb die Angst vor den Männern als ständiger Begleiter  im Nacken sitzen würde auf meiner Reise.

Sich in der Nacht als Frau in der Öffentlichkeit bewegen? Dumm. Das Haus bei Tag ohne meinen Freund verlassen? Anstrengend. Sich die Statistiken über «genderbased violence» in Südafrika vor Augen führen? Beängstigend. Hier einige davon:

Zwischen April 2020 und September 2022 wurden 988 südafrikanische Frauen im Kontext häuslicher Gewalt getötet – das sind 25 Frauen pro Monat. Beinahe täglich wird ein weibliches Leben in Südafrika durch männliche Gewalt ausgelöscht, denn: Ja, die Täter sind mit überwältigender Mehrheit Männer. Zum Vergleich: In der Schweiz werden jeden Monat zwei Frauen Opfer von Femiziden – also Morden in der Partnerschaft, deren Motive Besitzansprüche, Eifersucht und patriarchale Rollenmuster sind. Das sind zwar immer noch viel zu viele, aber weitaus weniger als am Kap von Afrika.

Ebenso zählt Südafrika zu den Ländern mit der höchsten Anzahl Vergewaltigungen weltweit. Über 42’000 werden pro Jahr polizeilich hier erfasst. Geht man – so wie viele offizielle Institutionen – davon aus, dass nur knapp 10 Prozent  aller Vergewaltigungen zur Anzeige kommen, so sind es unfassbare 420’000 Frauen, deren Körper, Selbstwert und Rechte jährlich in Südafrika geschändet und mit Füssen getreten werden. Mit verheerenden psychischen und physischen Folgen, die oft lebensbedrohlich sind.

Rosanna Grüter
Beinahe täglich wird ein weibliches Leben in Südafrika durch männliche Gewalt ausgelöscht.

Zwischen sieben  und acht  Millionen Menschen sind in Südafrika HIV-positiv. Das sind rund 20 Prozent  der Bevölkerung. Und im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern sind hier nicht hauptsächlich Männer betroffen.  Das Gegenteil ist der Fall: HIV ist in Südafrika mehrheitlich eine «Frauenkrankheit». Knapp 5 Millionen Frauen leben in Südafrika mit HIV, doppelt so viele wie Männer.

Die Ursachen dafür liegen gemäss UNAIDS in strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Diskriminierung und sexualisierter Gewalt. Frauen stecken sich also eher mit HIV an, weil sie nicht die gleichen Rechte haben wie Männer, ein tieferes Bildungsniveau oder weniger Zugang zu medizinischer Versorgung, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Und: weil sie sexuell öfter missbraucht werden.

Versteht mich bitte nicht falsch. Ich behaupte nicht, dass sexualisierte Gewalt ein «afrikanisches» Problem sei. Auch in Australien oder Island werden viele Frauen vergewaltigt, auch in der Schweiz stecken sich Frauen in der Partnerschaft mit HIV an, und Femizide geschehen leider überall auf der Welt.

Dennoch fällt es mir schwer, den Männern in Südafrika nicht voller Vorbehalte zu begegnen. Ständig habe ich diese Zahlen vor Augen – auf 420’000 Opfer kommen schliesslich 420’000 Täter. Ich – und Frauen ganz allgemein – wären dumm, die Bedrohung zu ignorieren, die von Männern statistisch gesehen in diesem Land ausgeht. Und in Südafrika ist diese Bedrohung oft spürbarer als anderswo: In der Schnittmenge von Patriarchat und Armut gedeihen spürbar gefährliche Blüten. Nie würde ich mich trauen, eine der grösseren Städte hier ohne meinen Freund zu erkunden, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit – zu aggressiv geladen ist stets die Stimmung auf den Strassen. Und gleichzeitig macht es mich unfassbar wütend, dass ich einen Mann brauche, der mich beschützt, notabene vor anderen Männern.

In der Schnittmenge von Patriarchat und Armut gedeihen spürbar gefährliche Blüten.

An dieser Stelle könnte ich meinen Reisebericht nun mit dem traurigen Fazit beenden, dass ich Südafrika nie mehr bereisen werde. Wären da nicht die Frauen!

Die Mädels, die mir in Johannesburg meine Nägel machten, mich mit Weisswein abfüllten und mich im Anschluss unbedingt auf eine Silvesterparty bei sich zu Hause in Soweto einladen wollten: feuchtfröhlich und fantastisch!

Die betagte Souvenir-Verkäuferin, die wir per Anhalter mitgenommen hatten und die im Anschluss darauf beharrte, mir ihre Nummern zu geben, «so you can write to me on Whatsapp»: berührend und bereichernd.

Die Gruppe von weiblichen Angestellten, Zimmermädchen, Köchinnen, Barfrauen in der Safari-Lodge, die mich sofort in ihren Zirkel aufnahmen, mich jeden Morgen mit einer fetten Umarmung begrüssten und mir am 25. Dezember geschlossen Weihnachtslieder vorsangen: unabhängig und unvergesslich.

Und die junge Frau im Museum, die mich wegen meines Kleides komplimentierte und anschliessend ein langes Gespräch über Kolonialisierung und Frauenrechte mit mir  begann: lehrreich und lustig.

Trotz den massiven Unterschieden zwischen uns begegneten mir diese Frauen mit nichts als Liebe. Sie erziehen ihre Kinder, ernähren ihre Familien und halten ihr Land über Wasser im Angesicht von Gewalt, Ungerechtigkeit und ständig drohender Gefahr. Sie trotzen dem Bürgerkrieg, den Südafrika trotz allem irgendwie führt – gegen seine Frauen! – mit Fürsorge, Geduld und Würde.

Südafrikanische Frauen sind eine Inspiration. Wegen ihnen werde ich wiederkommen, und für sie bin ich Feministin – mehr noch als für mich selbst.