Wenn Beweise fehlen, darf man sich dann welche ausdenken? Der gesunde Menschenverstand würde sagen: natürlich nicht. Der Oberste Gerichtshof der USA nahm es damit im Jahr 2007 nicht so genau: «Obwohl es keine zuverlässigen Daten (…) dazu gibt, lässt sich unbedenklich schliessen, dass einige Frauen (…) ihre Abtreibung bereuen (…). Schwere Depressionen und Verlust des Selbstwertgefühls können folgen.» So begründete der Supreme Court damals seinen Mehrheitsentscheid, das Verbot einer bestimmten Abtreibungsprozedur aufrechtzuerhalten. Ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie Entscheidungsträger:innen global mit oft haltlosen Argumenten versuchen, Reproduktionsrechte einzuschränken oder anzugreifen.

«Es war sehr klar, dass es dringend zuverlässige Daten über die Folgen von Abtreibungen brauchte», sagt Diana Greene Foster. Die Professorin an der University of California beschloss, eine gross angelegte Studie zu realisieren, um ein für allemal die Frage zu beantworten: Schaden Abtreibungen den Frauen? Und vice versa: Welche Schäden können entstehen, wenn eine gewollte Abtreibung nicht gewährt wird?

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Die Turnaway-Studie

Die «Turnaway Study» war weltweit die erste Studie ihrer Art. Sie begleitete während eines Zeitraums von zehn Jahren 1000 Frauen, die abgetrieben hatten oder aber abgewiesen (engl.: to turn away) wurden. Die Studie untersuchte die Konsequenzen der Abtreibung, respektive der ausgetragenen Schwangerschaft, anhand unterschiedlichster Kriterien. Die Profile der Studienteilnehmerinnen waren durchmischt: «Frauen aller ethnischen Herkünfte und wirtschaftlichen Schichten ersuchen Abtreibungen», schreibt Greene Foster im Studienbericht.

Bleibt die Frage, warum Frauen, die abtreiben wollen, überhaupt abgewiesen werden? Weil sie zu spät dran sind. In den meisten US-Bundesstaaten liegt die Frist zwischen der 20. und 24. Schwangerschaftswoche. Die Turnaway-Studie fand heraus, dass die allermeisten der Abgewiesenen ihre Schwangerschaft schlichtweg erst spät erkennen. Kommen dazu andere Hürden, kann dies dazu führen, dass sie die Frist verpassen. Manche müssen erst die finanziellen Mittel beschaffen, etwa wenn sie keine Krankenversicherung haben oder ihre Versicherung Abtreibungen nicht deckt. Oder aber sie leben in einem US-Bundesstaat, in dem es nur noch eine oder sehr wenige Abtreibungskliniken gibt, müssen diese zuerst ausfindig machen und schliesslich sehr lange Anreisen auf sich nehmen. Was wiederum mit Kosten verbunden ist.

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Wer nicht abtreiben darf, lebt danach eher in Armut

Das wichtigste Ergebnis vorab: Die Turnaway-Studie fand keine Beweise dafür, dass Abtreibungen den Frauen schaden. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Frauen, die selbstgewählt abgetrieben hatten, erging es in der Folgezeit in sämtlichen Belangen besser: physisch, psychisch, sozio-ökonomisch.

Die erheblichsten Unterschiede zwischen Frauen, die abtrieben, und jenen, die die Schwangerschaft austragen mussten, fand die Studie im finanziellen und beruflichen Kontext. Einige Beispiele:

  • Frauen, die nicht abtreiben dürfen oder können, leben eher in Armut. Für die Studienleiterin Greene Foster sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dieser Frauen keine Überraschung: «Der mit 40 Prozent meistgenannte Grund für eine Abtreibung ist, dass sich die Studienteilnehmerinnen ein Kind oder ein weiteres Kind nicht leisten können. Frauen verstehen die finanziellen Konsequenzen einer Schwangerschaft, und sie haben recht damit.»
  • Abgleichungen mit der Kreditauskunft zeigen, dass Frauen, denen eine Abtreibung verweigert wurde, eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für Schulden, Bankrott sowie eine schlechtere Kreditwürdigkeit haben.
  • Kinder von Müttern, die eine gewünschte Abtreibung nicht erhielten, lebten in den Folgejahren eher in Armut (72 Prozent, im Gegensatz zu den 55 Prozent, deren Mutter im Laufe der Studie eine ungewollte Schwangerschaft beendete). Die Studie zeigt also, dass verweigerte Abtreibungen nicht nur den Frauen schaden, sondern auch den Kindern, für die diese bereits sorgen: Für sie ist ebenfalls weniger Geld da, wenn die Mutter ein weiteres, ungewolltes Kind bekommt.
Diana Greene Foster, Leiterin der Turnaway-Studie
Frauen verstehen die finanziellen Konsequenzen einer Schwangerschaft, und sie haben recht damit.
  • Frauen, denen eine Abtreibung verweigert wird, werden mit grösserer Wahrscheinlichkeit alleinerziehend. Bemerkenswert ist, dass die Studie keine Erkenntnisse zur finanziellen Abhängigkeit von Frauen erlangt. Viel eher scheint es, als wären die Frauen auf sich allein gestellt: «Wir fanden keine Beweise dafür, dass der in die Schwangerschaft involvierte Mann eine grosse Rolle in der Unterstützung der Frau oder des Kindes spielt. Frauen, denen ein Abbruch verweigert wurde, lebten zwar kurzfristig eher mit anderen Erwachsenen zusammen. Aber es besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie das Kind langfristig alleine grossziehen», fasst Greene Foster zusammen.
  • Vier Jahre dauert es, bis Frauen, die ihr Kind ungewollt zur Welt bringen, beruflich wieder auf demselben Beschäftigungslevel sind wie jene, die abgetrieben haben. Finanziell holen sie nicht auf. Zumindest nicht innerhalb der fünf Jahre, in der die Studienteilnehmerinnen regelmässig befragt wurden. Greene Foster sagt dazu: «Und selbst wenn sie irgendwann aufholen: Sie können diese Jahre in wirtschaftlicher Not nicht noch einmal erleben und ein Kind mit genügend Mitteln grossziehen.» Dazu passt, dass viele Studienteilnehmerinnen, die abtreiben, einige Jahre danach gewollt Kinder zur Welt bringen: Die Abtreibung machte es möglich, später unter besseren Umständen schwanger zu sein.
  • Wer nicht abtreiben darf, beschränkt die eigenen Pläne: beruflich, finanziell und schulisch. Eine von fünf Frauen gab als Grund für den Schwangerschaftsabbruch an, dass ein Kind ihre Zukunftschancen beeinträchtigen würde. Diese Einschätzung bestätigt die Studie. Wer eine gewollte Abtreibung erhielt, verfolgte im folgenden Jahr mehr berufliche, finanzielle und Bildungs-Ziele (86 Prozent) als jene Frauen, die keine erhielten (56 Prozent). Beide Gruppen erreichen zwar ihre Ziele, aber wer sich weniger Ziele steckt, erreicht insgesamt weniger.
Diana Greene Foster, Leiterin der Turnaway-Studie
Wir fanden keine Beweise dafür, dass der in die Schwangerschaft involvierte Mann eine grosse Rolle in der Unterstützung der Frau oder des Kindes spielt.

Abtreibungsverbot – ein Wirtschaftsrisiko

Abgelehnte Abtreibungen und die damit verbundenen Konsequenzen sind nicht nur für die betroffenen Frauen eine grosse finanzielle Herausforderung. Angesichts der Tatsache, dass das Grundsatzurteil auf das Recht auf Abtreibung («Roe vs. Wade») in den USA nun auf der Kippe steht, äusserte sich US-Finanzministerin Janet Yellen im Mai 2022 folgendermassen: «Ich glaube, dass die Abschaffung des Entscheidungsrechts von Frauen darüber, wann und ob sie Kinder bekommen, sehr schädliche Auswirkungen auf die Wirtschaft hätte und Frauen um Jahrzehnte zurückwerfen würde.» Sie argumentierte, dass ein Abtreibungsverbot es wahrscheinlicher macht, dass Frauen in Armut leben oder auf öffentliche Gelder angewiesen sind. Ein Argument, das durch die Turnaway-Studie nun sehr gut belegt ist.

Die Situation in den USA zeigt: Dass Abtreibungen legal sind, heisst nicht, dass sie dies auch bleiben. Auch in der Schweiz versuchen politische Initiativen zurzeit, Abtreibungsgesetze zu verschärfen. Was denkt die Studienleiterin darüber? «Wir müssen den Fokus auf die Entscheidungsfähigkeit der Schwangeren lenken, damit die Politiker nicht das Gefühl haben, für sie entscheiden zu können. Wir stellen fest, dass Menschen, die sich für eine Abtreibung entscheiden, die Folgen verstehen. Sie treffen eine Entscheidung, die für sie und ihre Familien am besten ist.»

Sollte die Abtreibungsfrist ausgeweitet werden?

Zurzeit führt Greene Foster eine Turnaway-Studie in Nepal durch. Ein Land, das zwar gute Gesetze habe (freie Abtreibungsfrist bis zur 12. Schwangerschaftswoche, bei Inzest oder Vergewaltigung bis zur 18.), aber unzureichende Mittel für die Umsetzung: «Den Kliniken gehen die Medikamente aus, und sie müssen Menschen abweisen, sodass diese in einem Land mit astronomischen Müttersterblichkeitsraten gebären müssen.»

Die Demographin ist der Meinung, dass europäische Länder eigene Turnaway-Studien durchführen sollten. Einerseits, um Argumente für liberale Abtreibungsgesetze zu belegen. Andererseits, um herauszufinden, was mit Menschen passiert, die die gesetzliche Frist überschritten haben: «Wer kann in die Niederlande oder nach Grossbritannien reisen und zu welchem ​​Preis? Wie viel Stress wird schwangeren Menschen durch eine Frist von zwölf Wochen auferlegt? Und wer sind die Betroffenen?» Die Annahme, dass Menschen jenseits des ersten Trimesters nicht das Recht verdienen, zu entscheiden, was mit ihrem Körper oder ihrer Familie passiert, müsse überprüft werden. Die US-Turnaway-Studie habe zweifellos festgestellt, dass sich Menschen, die eine spätere Abtreibung wollen, nicht von jenen unterscheiden, die frühere Abtreibungen hatten. Abgesehen davon, dass sie ihre Schwangerschaft zu spät bemerkten.

Die Studienleiterin fügt an: Sie würde gerne mit Wissenschaftler:innen zusammenarbeiten, die diese Fragen in Europa beantworten wollen.

Diana Greene Foster veröffentlichte die Ergebnisse der Turnaway-Studie im Buch The Turnaway Study: Ten years, a Thousand Women and the Consequences of Having – or Being Denied – an Abortion.