Die 42-Stundenwoche und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Das Thema steht schon lange auf meiner Liste von Themen, über die ich schreiben will. Ironischerweise hat mir bisher die Zeit gefehlt, es anzugehen. Durch die aktuelle Debatte rund um den Fachkräftemangel, die Teilzeitarbeit und die Erhöhung der Erwerbsarbeit ploppte es nun wieder auf. Und ich habe mir vor allem eine Frage gestellt: Hat hier jemand mal gerechnet?

Eine 42-Stunden-Woche, wie sie heute in der Schweiz grösstenteils verbreitet ist, bedeutet: Man arbeitet 8,5 Stunden am Tag. Wer um acht Uhr morgens mit der Erwerbsarbeit beginnt, ist um fünf Uhr nachmittags fertig, inklusive gesetzlich vorgeschriebene Mindestpause von einer halben Stunde. Pendelt man zwischen Wohn- und Arbeitsort, was in der Schweiz acht von zehn Erwerbstätigen tun, verlässt man morgens um halb acht das Haus und ist abends um halb sechs wieder daheim. Erwerbstätige pendeln im Schnitt 29 Minuten pro Tag.

Samantha Taylor
Egal welche Variante man wählt: Es ist für Eltern ein Kraftakt, 42 Stunden Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Vor allem für Frauen.

Das ist die Rechnung ohne Kind(er). Mit Kind(ern) sieht sie anders aus. Und so viel vorweg: Die Rechnung geht nicht mehr auf. Wer auf die achteinhalb Stunden kommen will, muss morgens früher aus dem Haus und ist abends später daheim. Der Weg zur Kita, das Umziehen, die Verabschiedung: Das alles dauert schnell mal eine halbe Stunde. Das heisst: Morgens um sieben zu Hause los. Das abendliche Abholen, das Übergabegespräch, der Heimweg – mindestens eine weitere halbe Stunde. Ankunft zu Hause: um sechs Uhr abends  

Dieses Szenario ist übrigens der absolute Optimalfall: Die Kita liegt nahe von zu Hause oder dem Arbeitsort, Umwege müssen keine gemacht werden, das Pendeln dauert tatsächlich nur 29 Minuten pro Weg, das Kind macht sowohl die Verabschiedung am Morgen wie auch das Anziehen fürs nach Hause gehen abends widerstandslos mit. Im echten Leben aber dauert vieles länger, die Wege sind weiter, die Widerstände grösser. Nicht erwähnt habe ich den Effort, der nötig ist, um mit einem oder mehreren Kindern morgens um sieben Uhr das Haus verlassen zu können. Bei der abendlichen Ankunft zu Hause ist noch nichts gekocht, und von Feierabend kann sowieso noch lange nicht die Rede sein. Aber darum geht es jetzt nicht.

Es geht darum, dass bereits die aktuell verbreitete 42-Stunden-Woche ein totaler Vereinbarkeitskiller ist – aus meiner Sicht sogar die Nummer eins. Jene Tage, an denen die Kinder fremdbetreut werden, sind für viele Eltern die stressigsten. Wer seine Kinder nicht täglich fast elf Stunden fremdbetreuen lassen kann oder will, kommt nicht drum herum, an diesen Tagen weniger Erwerbsarbeit zu leisten. Die Minuszeit beim Job muss irgendwann nachgeholt werden – sofern diese Flexibilität überhaupt besteht. Wer Schichtarbeit leistet oder fixe Präsenzzeiten hat, wie dies etwa in Pflegeberufen, in der Gastronomie oder im Detailhandel der Fall ist, hat keinen Spielraum.

Kann oder will man die Minuszeit nicht in der Freizeit kompensieren, muss man kreativ werden. Man kann sich einerseits für eine Variante entscheiden, die etwas Puffer lässt und beispielsweise ein 50-Prozent-Pensum auf drei volle Tage verteilen. Ein Luxus. Denn die Betreuungskosten sind hoch, und nicht jede Familie kann sich einen extra Tag Kita leisten, damit es die Eltern im Job weniger stressig haben. Oder aber man organisiert jemanden, der/die die Kinder zur Betreuung bringt und abholt. Ein zusätzlicher logistischer Aufwand. Eine weitere Möglichkeit: Man sucht sich einen Job, bei dem die Ansprüche an die eigene Leistung nicht allzu hoch sind, und bleibt dafür unter Umständen finanziell oder karrieremässig unter den eigenen Möglichkeiten.

Egal welche dieser Varianten man wählt: Es ist für Eltern ein Kraftakt, 42 Stunden Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Vor allem für Frauen. Es sind noch immer mehrheitlich die Mütter, die sich am meisten für das System verbiegen. Sie arbeiten Teilzeit und in tiefen Erwerbspensen. Sie nehmen hohe Lohneinbussen in Kauf. Sie buchstabieren ihre Karriere rückwärts. Sie bleiben im Homeoffice, kümmern sich zwischen den Calls um den Haushalt und bringen die Kinder in die Kita. Sie machen einen riesigen Spagat und brennen dabei aus.

Samantha Taylor
Wer wirklich will, dass Frauen mehr Erwerbsarbeit leisten, sollte sich für weniger Stunden im Büro, auf dem Bau oder im Spital einsetzen.

Und nun sollen die Frauen mithelfen, den Fachkräftemangel zu lindern. Das wirtschaftliche Potenzial der Mütter müsse besser ausgeschöpft werden, verlangt die Wirtschaft. Also hoch mit den Erwerbspensen! Weniger Teilzeitarbeit! So lautet zumindest das Credo. Und weil das noch nicht reicht, will unter anderem der Arbeitgeberverband auch gleich noch die Wochenarbeitszeit erhöhen. Womit sich Familie und Beruf noch schlechter vereinbaren lassen. Ist das euer Ernst?

Wer wirklich will, dass Frauen mehr Erwerbsarbeit leisten, sollte sich für weniger Stunden im Büro, auf dem Bau oder im Spital einsetzen. Nur wenn wir alle im Job weniger Stunden absitzen müssen, lassen sich Beruf und Familie wirklich vereinbaren. Dass dies der Wirtschaft nicht schadet, zeigt ein Blick ins Ausland: Island hat die 35-Stundenwoche eingeführt, ein grossangelegter Versuch in Grossbritannien zur Viertagewoche war ein Erfolg. Berichtet wird aus beiden Ländern dasselbe: Die Mitarbeitenden sind zufriedener, motivierter, produktiver und seltener krank.

Ist das nicht genau das, was die Wirtschaft jetzt braucht: Motiviertere, produktivere und gesündere Mitarbeitende?

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