Die Fortschritte auf dem Weg zur Geschlechterparität haben in den letzten Jahren grosse Einbussen erlitten. Das Risiko für weitere Rückschritte wird immer grösser. Die COVID-19-Pandemie verursachte einen Generationsverlust, also eine Verschlechterung der Situation zwischen der einen und der nächsten Generation. Die Pandemie  verlängerte zudem  – zwischen 2020 und 2022 – die prognostizierte Zeit bis zum Erreichen der globalen Geschlechterparität von 100 auf 132 Jahre. Die Rechte der Frauen stehen weltweit unter Druck.

Die Rückschritte sorgen nicht nur dafür, dass weltweit Millionen von Frauen und Mädchen der Zugang zu Bildung und die Chancen auf Gleichberechtigung verwehrt werden, sie haben auch weitreichende Folgen für die Weltwirtschaft. Gleichzeitig betreten Frauen immer mehr Neuland, indem sie in Führungspositionen aufsteigen, die noch nie eine Frau zuvor innehatte. Zum ersten Mal gibt es in jedem Parlament der Welt mindestens eine Frau, und neue Untersuchungen zeigen, dass die Vielfalt unter den weiblichen Abgeordneten so gross ist wie nie zuvor.

Die Pandemie verlängerte zudem – zwischen 2020 und 2022 – die prognostizierte Zeit bis zum Erreichen der globalen Geschlechterparität von 100 auf 132 Jahre.

Wir leben in einer Zeit der Mehrfachkrisen, die durch grosse Schwankungen und beispiellose Unsicherheit gekennzeichnet ist. Es haben sich wirtschaftliche Abgründe aufgetan, die sich unverhältnismässig stark auf Frauen, ethnische Minderheiten, LGBTQI-Personen und Menschen mit Behinderungen auswirken. Menschen, bei denen mehrere dieser Eigenschaften zusammenkommen, erleben oft noch grössere Nachteile. Zu Beginn des Jahres 2023 lässt sich eine anhaltende und in einigen Fällen zunehmende Ausgrenzung von Frauen feststellen. Es wird ihnen erschwert oder verunmöglicht, vollständig am Wirtschaftsleben teilzuhaben –  als Arbeitnehmerinnen, als Führungskräfte, als Verbraucherinnen oder als Zulieferinnen. Langfristige Trends, der technologische Wandel und der Klimawandel eingeschlossen, werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede voraussichtlich noch verstärken.

Bestehen bleiben ausserdem die fehlende Anerkennung des Wertes unbezahlter Arbeit und die äusserst ungleiche Verteilung der Betreuungsarbeit. Obwohl die Technologie in den letzten Jahren in beispiellosem Tempo Durchbrüche erzielt hat, ist der Zugang zu ihr nach wie vor sehr ungleich verteilt. Hinzu kommt, dass Innovation nicht darauf ausgerichtet ist, die grössten Herausforderungen unserer Zeit zu lösen oder allen Menschen gleichermassen zu dienen.

Die Erreichung der Geschlechterparität ist nach wie vor eine riesige Herausforderung. Laut dem Global Gender Gap Report 2022 bestehen die beiden grössten Lücken noch immer in den Bereichen wirtschaftliche Chancen (hier besteht noch eine globale Geschlechterlücke von 40 Prozent) und politische Teilhabe (hier besteht noch eine globale Geschlechterlücke von ganzen 78 Prozent). Worauf sollten wir als Gesellschaft also unsere kollektiven Anstrengungen und unser Engagement konzentrieren? Fünf Punkte:

Beteiligung an der Erwerbstätigkeit

In den Jahren der Pandemie ging die Erwerbsbeteiligung von Frauen in allen Regionen der Welt deutlich zurück. Vor allem Frauen mit Betreuungspflichten gehörten zu denjenigen, die aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und nicht zurückgekehrt sind. Die globale Geschlechterparität bei der Erwerbsbeteiligung ist seit 2009 langsam gesunken. Im Jahr 2022 lag sie bei 62,9 Prozent. Damit befindet sie sich auf dem niedrigsten Stand seit der Erstellung des Global Gender Gap Index im Jahr 2006. Der IWF schätzt jedoch, dass eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen die Wirtschaftsleistung einiger Länder um bis zu 35 Prozent steigern könnte.

Führungspositionen

Im Jahr 2022 waren 33,4 Prozent der weltweiten Führungspositionen im öffentlichen und privaten Sektor von Frauen besetzt. Das ist eine klare Verbesserung im Vergleich zu den Vorjahren und ein Lichtblick für die Geschlechterparität. Der weltweite Anteil von Ministerinnen hat sich von 2006 bis 2022 fast verdoppelt, und der weltweite Anteil von Frauen in Parlamenten stieg von 14,9 Prozent  im Jahr 2006 auf 22,9 Prozent im Jahr 2022.

In einigen Branchen, in denen Frauen in der Vergangenheit unterrepräsentiert waren, wurden seit 2016 verstärkt Frauen in Führungspositionen eingestellt, darunter unter anderem in den Bereichen Technologie, Energie, Beschaffung von Rohstoffen sowie Mobilität. Dieser positive Wandel scheint jedoch gefährdet. In den letzten Monaten wurde der Zuwachs an Frauen teilweise wieder rückgängig gemacht; vor allem im Tech-Bereich sind Frauen übermässig stark von Entlassungen betroffen, wie aktuelle Daten zeigen.

Darüber hinaus verlassen Frauen in zunehmendem Masse Führungspositionen, sowohl in der Industrie als auch in der Politik. Die Herausforderung besteht nach wie vor darin, nicht nur Bedingungen zu schaffen, die es Frauen ermöglichen, in Führungspositionen aufzusteigen, sondern Bedingungen zu bieten, in denen sie sich auch entfalten können. Eine grundsätzlich vielfältigere Führung ist der Schlüssel zur Bewältigung der aktuellen Krise. Nicht zuletzt auch, weil eine Vielfalt der Perspektiven nachweislich zu einer mehr faktenbasierten und damit qualitativ hochwertigeren Entscheidungsfindung führt.

Der Gender Pay Gap ist nach wie vor eines der deutlichsten Anzeichen für die Ungleichheit des aktuellen Systems.

Lohngerechtigkeit

Der Gender Pay Gap ist nach wie vor eines der deutlichsten Anzeichen für die Ungleichheit des aktuellen Systems. Laut dem Global Gender Gap Report 2022 betrug das weltweite geschlechtsspezifische Lohngefälle etwa 49 Prozent. Für dieselbe Arbeit waren es immer noch 35 Prozent. In den OECD-Ländern liegt der Lohnunterschied von Vollzeitbeschäftigten bei 13 Prozent. Die Meldung von Lohnunterschieden und/oder deren Prüfung durch Unternehmen des privaten Sektors ist inzwischen in fast der Hälfte der OECD-Länder obligatorisch. Die Massnahme hatte bisher jedoch bestenfalls geringe Auswirkungen. Vielversprechendere Beispiele für Massnahmen kommen von der Industrie. Hier haben einzelne Unternehmen ehrgeizige globale Governance-Regelwerke und automatisierte Analysen entwickelt, um geschlechtsspezifische Lohnunterschiede zu beseitigen.

Innovationssysteme

Frauen werden in wichtigen Aspekten des Innovationsbereichs nach wie vor übersehen. Die Absicht, geschlechtergerechtere Innovationssysteme zu schaffen, rückt gewisse Massnahmen in den Fokus. Dazu gehören die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu Bildung und Ausbildung für die sogenannten MINT-Fähigkeiten, ein gleichberechtigter Zugang zu Arbeitsplätzen und Führungspositionen in den Zukunftsbranchen, ein fairer Zugang zu Risikokapital und – ganz grundsätzlich  – die Schliessung der digitalen Geschlechterkluft. Dass diese Herausforderungen gemeistert werden,  ist von entscheidender Bedeutung, um einerseits einen funktionierenden und fairen Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft zu gewährleisten. Andererseits geht es auch darum, Produkte zu schaffen, die geschlechtergerecht sind und einen grösseren Markt bedienen. Und schliesslich soll der Talentpool vergrössert werden, damit der nötige Fortschritt, den die Menschheit zur Bewältigung der riesigen Herausforderungen braucht, schnell und auf kreative Weise erzielt werden kann.

Im Jahr 2023 muss die Geschlechterparität zu einem zentralen Ziel der Wirtschaftspolitik und der Unternehmensstrategien werden.

Pflegesysteme

In vielen Ländern sind Pflegeberufe durch niedrige Löhne und geringe soziale Mobilität gekennzeichnet und werden überwiegend von Frauen, ethnischen Minderheiten und Wanderarbeiter:innen ausgeübt. Weltweit werden 76 Prozent der unbezahlten Betreuungsarbeit von Frauen geleistet, was sie oft daran hindert, in die Erwerbsarbeit zu gehen. In Volkswirtschaften, in denen der Wert der unbezahlten Pflegearbeit gemessen wird, macht der Sektor einen entscheidenden Anteil des BIP aus. Er liegt zwischen zehn und 39 Prozent. Und diese Zahl wird noch steigen, denn der demografische Wandel erhöht die Nachfrage nach Pflegeleistungen. Der Aufbau einer gut funktionierenden Pflegewirtschaft wird sich daher positiv auf die Fähigkeit von Frauen auswirken, gleichberechtigt am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Und er wird somit dazu beitragen, die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erwerbsbeteiligung, der Entlohnung und den Führungspositionen zu verringern.

Im Jahr 2023 muss die Geschlechterparität zu einem zentralen Ziel der Wirtschaftspolitik und der Unternehmensstrategien werden. Die Konzentration der Anstrengungen auf diese fünf Dimensionen wird nicht nur eine gerechtere Gesellschaft schaffen, sie ist auch eine renditestarke Investition in die Zukunft der Weltwirtschaft und eine Voraussetzung für die Überwindung der derzeitigen Krise.

Saadia Zahidi und  Silja Baller sind für das World Economic Forum tätig. Saadia Zahidi ist Mitglied der Geschäftsführung, Silja Baller ist Leiterin der Abteilung Diversity, Equity, Inclusion and Social Justice.