Eine Gruppe Polizisten in Vollmontur platzt mitten in den frühmorgendlichen Alltag einer Familie. Der Vater schreit, die Mutter scheint kurz vor einem Zusammenbruch, die Schwester schluchzt auf dem Badezimmerboden, alle sind im Schock. Der dreizehnjährige Beschuldigte pinkelt sich vor Schreck in die Hose, als eine Waffe auf ihn zeigt.

Wer noch nicht von der britischen Erfolgsserie gehört hat: So beginnt «Adolescence». Die vierteilige Netflix-Miniserie eröffnet mit der Verhaftung des dreizehnjährigen Jamie Miller. Ihm wird vorgeworfen, seine Mitschülerin Katie erstochen zu haben. Ohne filmisch auch nur einmal einen Cut zu setzen, liefert die Erzählung eine Antwort auf die Frage, weshalb Jamie die Gewalttat begangen hat: Der Dreizehnjährige radikalisierte sich online durch die Ideologie der frauenfeindlichen Incel-Bewegung, einer Community von Männern mit misogynen Weltanschauungen.

Jamie scheint wie die meisten Jungs anfangs Pubertät. Er möchte cool sein und gut bei dem Geschlecht ankommen, zu dem er sich hingezogen fühlt. Sein Aussehen wirkt unscheinbar, er scheint wie ein gänzlich durchschnittlicher Dreizehnjähriger. Zu Beginn ist man als Zuschauer:in von Jamies Unschuld überzeugt und stellt sich auf seine Seite.

Amélie Galladé
Wer denkt bei einem Frauenmörder an einen Teenager mit Teddybär im Bett?

Genau das macht die Serie spannend: Wer denkt bei einem Frauenmörder an einen Teenager mit Teddybär im Bett?

Wohl die wenigsten. Und trotzdem hat mich beim Schauen nichts an der Handlung überrascht. Denn die sogenannte Manosphere und Incel-nahe Manfluencer wie Andrew Tate sind in den sozialen Medien, auf denen wir GenZ-ler uns bewegen, schon länger präsent.

Unter «Manosphere» versteht man eine Internet-Bewegung, in der Männer antifeministische und misogyne Ideologien und Verschwörungstheorien wie die «Redpill»-Theorie verbreiten. Diese Männer sehen sich als Verlierer der Emanzipationsbewegung und fühlen sich dazu berufen, als soziales Korrektiv die traditionellen Geschlechterrollen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts anzupreisen. Heftig: Auf TikTok scrollt man als sechzehnjähriger Nutzer im Schnitt weniger als 9 Minuten, bis einem Manosphere-Content eingespielt wird. 

Die Incels wiederum sind eine Unterbewegung innerhalb der Manosphere. «Incel» steht für «involuntary celibate», also Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben und die Schuld dafür den sexuell erfolgreichen Männern und dem Feminismus zuschreiben. Männer in solchen Foren leiden häufig an psychischen Erkrankungen und Suizidgedanken.

Viele Incels sind gewaltbereit und brandgefährlich. Der Amokfahrer von Toronto 2018 outete sich in seinem Bekennerschreiben als Incel. Er wiederum bezog sich auf den Amokläufer, der 2016 sechs Menschen tötete, um sich für seine unfreiwillige Sexabstinenz «zu rächen».

Wer ein Incel ist, ruft eigentlich nach Hilfe. Genau wie Jamie, der seine Mitschülerin Katie mochte und etwas von ihr wollte. Doch Katie weist Jamie zurück und stellt ihn online bloss. Jamie wird Opfer von Cybermobbing, erlebt Zurückweisung und sucht als Folge Zugehörigkeit in Online-Foren. Er versinkt im Strudel der Incels, wird abweisend und für seine Familie unzugänglich.


Dass Jamie gemobbt wurde, war für die Erwachsenen in der Serie lange nicht ersichtlich, bis ein anderer Mitschüler sie darüber aufklärte. Dazu muss man wissen: Die Incels haben mit den Emojis, die wir alle täglich brauchen, eine eigene Sprache entwickelt. Beispielsweise steht das Dynamit-Emoji unter Jamies Instagram-Beitrag für «Incel» – als Beschimpfung gemeint. Zur Selbstbezeichnung verwenden die Incels das Bohnen-Emoji. Auch den verschiedenfarbigen Herzen kommt eine Bedeutung zu. 

So weit, so nachvollziehbar. Doch beim Schauen der Serie fragte ich mich: Wie konnte die Situation derart eskalieren – von Online-Foren zu einem Mord?

Amélie Galladé
Auch die Generation meiner Eltern hat jetzt mal von Incels gehört. Für die meisten jungen Menschen sind das keine News.

Die Gründe sind vielseitig: Die Plattformen, namentlich Reddit, aber auch Instagram, TikTok und YouTube, gehen nur unzureichend gegen Incel-Communities vor. Doch das Problem beginnt früher. Ob ein Nährboden für eine potenzielle Radikalisierung geschaffen wird, hängt auch von der Erziehung ab. Es geht um die Vermittlung von Geschlechterrollen und Geschlechterkompetenz und um die Schärfung von Medienkompetenzen. Die heutigen Technologien sind Realität, und gänzliche Social-Media-Verbote bis zu einem gewissen Alter, wie sie der eine Produzent von «Adolescence» fordert, können nicht vor den Gefahren des Internets  schützen. Stattdessen müssen wir als Individuen, in der Schule und als Gesellschaft lernen, diese Technologien bestmöglich zu nutzen und Gefahren abzuwenden – auch für unsere Kinder.

Seit Mitte März, als die Serie «Adolescence» erschienen ist, zeigen sich Medien alarmiert über das Ausmass frauenhassender Online-Communities. Das Gute daran: Auch die Generation meiner Eltern hat jetzt mal von Incels gehört. Denn für die meisten jungen Menschen sind das keine News. Wir sind bereits seit einigen Jahren mit dieser radikalisierten Ecke des Internets und ihren «Manfluencern» konfrontiert. 

Das Problem: Viele Eltern wissen nicht mal ansatzweise, was ihre Kinder – teilweise stundenlang – online machen. Oftmals ist der Nachwuchs punkto Digitalkompetenz meilenweit voraus. Umso wichtiger ist es, dass Eltern echtes Interesse zeigen, sich mit der digitalen Welt ihrer Kinder auseinandersetzen und diese zum kritischen Denken darüber anregen. Wenn kein Kontakt zu einem Kind mehr möglich ist, weil es zu sehr in die Online-Welt abgedriftet ist, sollte man professionelle Hilfe beiziehen.

Amélie Galladé
Radikalisierung zu Frauenhass findet auch in Kinderzimmern statt.

Und das ist das Verstörende an «Adolescence»: Radikalisierung zu Frauenhass findet auch in Kinderzimmern statt.

Der britische Premierminister ordnete an, dass alle weiterführenden Schulen in Grossbritannien gratis «Adolescence» schauen können. Noch wichtiger fände ich, dass die Eltern die Serie schauen würden.