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Schlecht organisiert
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Es ist 7 Uhr 22, als Julia mit ihrem Batch die Eingangstür bei Vorberger öffnet. Im Treppenhaus ist es ebenso dunkel wie draussen um diese Zeit im Dezember.  Julia aktiviert die Treppenhausbeleuchtung und den Aufzug; sie ist mal wieder die Erste.

Im Spiegel des Aufzugs entdeckt Julia, dass etwas Nutella auf ihrer weissen Bluse klebt. Sie versucht, den Fleck leise fluchend mit etwas Spucke zu entfernen. Levin war heute Morgen wieder unmöglich, die Trotzphase scheint bei ihm kein Ende zu nehmen. Dass er die neue Krippenbetreuerin nicht mag, hilft natürlich auch nicht. Es ist jeden Morgen ein Kampf, bis er etwas frühstückt und sich die Zähne putzen lässt. Daher auch die Nutella; die ist weder konzentrationsfördernd noch zahnschonend - wie man ihr in der Krippe schon mehrfach und auch heute wieder erklärt hat - aber das Einzige, was sie derzeit morgens in Levin hineinbekommt.

Im sechsundzwanzigsten Stock schiebt sich mit einem Bling die Lifttüre auf, nochmals batchen, dann geht die Glastür auf und das Etagenlicht an. Julia eilt in ihr Büro.

Die Yucca Palme sollte wenigstens zweimal die Woche gegossen werden, das muss sie dem Sekretariat heute nochmals sagen. Sie schreibt "Pflanze" auf ein Post-it und klebt es an den rechten Pultrand. Derweil fährt sie den Computer hoch, öffnet den Outlook-Express und sucht nach der E-Mail mit den Einwahldaten für den Conf Call um 7 Uhr 30.

Watter, Wenger, Widmer ... hier ist die E-Mail von Wilkinson mit der Einwahlnummer und dem Pincode. Noch zwei Minuten, perfekt.

Aber, nein, was steht hier: 7.30 am UTC, nicht 7.30 am CET! Wilkinson sitzt in London und hat lediglich seine eigene Zeitzone angegeben. Julia ist eine Stunde zu früh. Die ganze Hetzerei war umsonst!

Was soll's. Besser als zu spät. Das wäre ein No-Go, wie ihr Reicher deutlich zu verstehen gegeben hat, als sie das erste Mal aus dem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt war. Frau organisiert sich und zwar so, dass niemand im Büro und ganz bestimmt kein Klient merkt, dass man nicht nur arbeitstätig sondern auch noch Mutter ist. Alles andere wird von der Partnerschaft als Unvermögen gewertet.

Julia hat sich organisiert. Levin besucht eine Krippe, die grosszügig Randstunden abdeckt. Morgens ab sieben Uhr, abends wenn nötig bis 20 Uhr. Mia besucht den Kindergarten, die Zeit zwischen Vormittag und Nachmittag überbrückt ein Mittagstisch und vor Acht und ab 15 Uhr kann sie in dieselbe Krippe wie Levin. Täglich, ausser freitags, da hat Julia praktisch frei - abgesehen von dringenden Angelegenheiten, den üblichen E-Mails und gelegentlichen Telefonkonferenzen, die sich nicht anders legen lassen.

Marc kann nicht reduzieren, er ist bereits Partner in einer anderen grossen Wirtschaftsanwaltskanzlei. Männer arbeiten dort keine Teilzeit. Auch das Hinbringen und Abholen der Kinder kann er nicht übernehmen. Abends muss er sich an Networking-Anlässen zeigen und morgens muss er joggen, zum Ausgleich.

Julia geht in die Küche, um der Yucca Palme ein Glas Wasser und sich selbst einen Kaffee zu holen. Dann schreibt sie 50 Minuten an einem Gesuch um vorsorgliche Massnahmen, das morgen raus soll; ihre ersten 0.7 Billable Hours heute. Mindestens 1600 müssen es bis Jahresende noch werden, wenn sie trotz ihres 80-Prozent-Pensums auf Partner-Track bleiben will.

Um 8.28 Schweizer Zeit wählt sich Julia in die von Wilkinson angesetzte Telefonkonferenz ein und gibt ihren Teilnehmer-Pincode ein.  "Welcome to Web Conferencing Services by Arkadin. You are the first participant in this call."

Julia hat alle relevanten Unterlagen vor sich, den Call hat sie gestern Abend noch vorbereitet, als die Kinder schliefen. Wilkinson ist für seine scharfen Fragen bekannt und offenbar hat sich sein Ton nicht gemildert, seit er vor zwei Jahren Junior Partner geworden ist.

8 Uhr 35. Julia ist noch immer die einzige Teilnehmerin an der Konferenzschaltung. Ebenso um 8 Uhr 40 und 8 Uhr 45.

Um 8 Uhr 50 knackt es in der Leitung und ein entspannter Wilkinson schaltet sich dazu. „Morning Julia. How are things? Please apologize for my delay. I had to bring my kids to school. And then there was a drama because one of them forgot his gym bag and only realized when we were in front of the school building. You certainly know what I am talking about…”

Ja, weiss sie. Wäre aber nie ein Grund, zwanzig Minuten zu spät an einem Call teilzunehmen. Nicht auszudenken, wie sie das Reicher erklären würde. Erwartet Wilkinson etwa, dass sie sich jetzt nach dem Turnsack erkundigt?

Als Julia nur ein „No problem“ murmelt, erstirbt Wilkinsons Plauderton und er eröffnet den eigentlichen Call mit einem knappen: „Did you read my comments on your brief?”

Ja, hat sie. Wäre aber nicht nötig gewesen, weil Wilkinson ihr jetzt jeden einzelnen seiner Kommentare nochmals ausführlich erläutert. Und sie am Schluss mit der Umsetzung beauftragt, bis spätestens heute Abend.

9 Uhr 50. Julia ist 5 Minuten zu spät zum wöchentlichen Teammeeting unter Reicher.

Als sie vorsichtig die Tür öffnet, unterbricht sie ihn gerade beim Statusbericht über seinen derzeit grössten Schiedsfall. Erwartungsvoll sehen er und Julias Kollegen sie an und warten auf Ihre Entschuldigung.

„Tut mir wirklich leid. Ich hatte einen Call mit Wilkinson in der Nestlé-Sache und er war geschlagene zwanzig Minuten zu spät, weil er seine Kinder zur Schule gefahren hat.“

Julia überlegt sich, ob sie eine Bemerkung über schlechte Organisation nachschieben soll, als ihr Reicher zuvorkommt: „Na das nenne ich einen modernen Mann! Junior Partner bei Hales und bringt seine Kinder selbst zur Schule. Vorbildlich, wirklich.“