Serena blinzelt durch ihre Sonnenbrille und sieht an ihren Füssen vorbei auf den Infinity-Pool und das dahinterliegende türkisblaue Meer. Eine sanfte Brise streicht ihr über das Gesicht und die Sonne steht schon etwas tiefer; sie muss kurz eingenickt sein.

So entspannt war sie schon seit Jahren nicht mehr. Nach sechs Jahren als Associate Director EMEA bei der Movarto Gruppe hat sie sich diese kurze Auszeit mehr als verdient. Mit jeder Massage, jedem Drink bei Sonnenuntergang wird ein bisschen Anspannung mehr von ihr abfallen.

Sie schiebt sich ein zweites Kissen in den Nacken und erblickt ihren Mann, der mit den beiden Kindern eine prächtige Sandburg gebaut hat. Nun wird gerade noch der Graben ausgehoben und die aus Palmblättern geflochtene Ziehbrücke angebracht. Was sie doch für ein Glück mit ihrem Martin hat; stets hält er ihr den Rücken frei, federt ihre zahlreichen Überstunden und Geschäftsreisen organisatorisch ab und macht ihr keine Vorwürfe, wenn sie auch daheim bis spätabends vor dem Rechner sitzt.

Nun hat er sie entdeckt und winkt. Serena wirft ihm eine Kusshand zu.

Die letzten drei Monate bei Movarto waren besonders anstrengend. Sie musste ihre Gesamtjahresziele bis Ende Oktober erreichen, um den vollen Bonus zu kassieren. Im selben Monat standen zudem bereits zwei Strategie-Wochenenden für das Management der HBC Gruppe an, an denen sie in ihrer Funktion als zukünftige COO nicht fehlen durfte.

Letztlich hat sie wie immer alles unter einen Hut gebracht; einschliesslich des Abschlussaperitifs für ihre drei Teams und Liaras Balletaufführung. Letztere allerdings nur noch mit Hilfe der doppelten Dosis ihres Migränemedikamentes.

Jetzt ist sie hier; hat sich jeden Tag dieses dreiwöchigen Urlaubes verdient, jeden Franken für dieses Luxusresort auf den Seychellen selbst erarbeitet. Sie seufzt zufrieden, als ein feines Glöckchen erklingt, das zum Afternoon-Tea am Pool lädt.

Martin und die Kinder haben es auch gehört und machen sich auf den Weg.

Kaum dass sie zu Viert unter dem Sonnenschirm auf ihren Liegen sitzen, nähert sich der Kellner mit seinem Tablet. Kokosmandelkrokant, Schokoladen-Passionsfrucht-Törtchen und caramelisierte Ingwerbisquits stehen zur Auswahl. Mit einer leichten Verbeugung und einem breiten Lächeln wendet er sich – an Serena, die ihm bereits ihre Tasse entgegenstreckt, vorbei – an Martin. „Good afternoon Sir, would you like to drink coffee or tea?“

Martin wählt Kaffee und macht sich freudig über die Ingwerbisquits her, ohne Serenas Irritation zu bemerken, die immer noch mit ihrem ausgestreckten Arm und der leeren Tasse dasitzt.

Unzählige „Good morning Sir“, „How was your day Sir?“ und „Good night Sir“ begleiten Serena durch den von ihr finanzierten Urlaub. Auf ihre anfängliche Irritation folgen verschiedene erfolglose Versuche, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken - etwa indem Serena nach dem gemeinsamen Essen jede Rechnung an sich nimmt und signiert. Oder sich an der Pool Bar lautstark einen Long Island Iced Equalitea bestellt.

Und schliesslich Kapitulation. Es scheint schlicht das Vorstellungsvermögen der gesamten männlichen Hotelbelegschaft zu übersteigen, dass sie als Frau die Hauptverdienerin ihrer Familie und damit in ihrer Logik die primäre Ansprechperson ist.

Als Serena sich am letzten Ferientag nach dem dritten Long Island Iced Equalitea von Martin aufs Zimmer tragen lässt, schwört sie, ihren nächsten Urlaub in den Schweizer Alpen zu verbringen. Ihr gelallter Protest „ischab mir dassalles verdient, isch“ wird immer leiser, während Martin sie zudeckt und zärtlich auf die Stirn küsst. „Yes, Sir.“