Wie spricht man mit Kindern über Grenzüberschreitungen? Wie bringt man ihnen bei, dass sie nicht einfach so angefasst werden dürfen – und wie sie darüber sprechen können, wenn es trotzdem passiert? Was sollten Fachpersonen und Eltern beachten? Agota Lavoyer ist Expertin für sexualisierte Gewalt. In ihrem ersten Buch «Ist das okay?» gibt sie anhand von Szenen aus dem Alltag Tipps und Antworten auf diese Fragen. Das Fachbuch ist so ausgestaltet, dass man es auch mit Kindern zusammen lesen kann.

Agota Lavoyer betreute in den letzten Jahren als Opferhilfeberaterin hunderte Opfer von sexualisierter Gewalt, unterstützte ihre Angehörigen und beriet die entsprechenden Fachpersonen. Heute engagiert sie sich als Referentin, Buchautorin und Kolumnistin (unter anderem auch für elleXX) für einen gesellschaftspolitischen Wandel und ein Umdenken bezüglich sexualisierter Gewalt. Sie bietet Schulungen und Referate über den Umgang mit sexualisierter Gewalt an Kindern für Eltern und Fachpersonen an.

Was war dein Schlüsselmoment in Bezug auf Feminismus? Wann bist du Feministin geworden?

Ich habe während meines Studiums bei «FriedensFrauen Weltweit» gearbeitet. Diese NGO entstand 2005 aus der Initiative, tausend Friedensaktivistinnen aus aller Welt gemeinsam für den Friedensnobelpreis zu nominieren. Bei dieser Arbeit erhielt ich Einblick in die vielfältige, mutige und oft gefährliche Friedensarbeit von Frauen auf der ganzen Welt. Das hat mich tief berührt, beeindruckt und zur Feministin gemacht.

Was braucht es für eine feministische Weltrevolution?

In Bezug auf die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt braucht es endlich engagierte Männer. Es darf nicht allein das Engagement von Frauen und Müttern sein, die patriarchalisch-gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen und anzuprangern. Auch in Bezug auf Kinder: Väter müssen in allen Belangen Verantwortung übernehmen, auch für den Schutz vor sexualisierter Gewalt.

Sexualisierte Gewalt ist Männergewalt und muss auch von Männern bekämpft werden. Wenn Männer so viel Macht haben, dass sie in dem Ausmass sexualisierte Gewalt ausüben können, dann haben sie auch die Macht, sexualisierte Gewalt zu beseitigen.

Welches Erlebnis hat den Ausschlag dafür gegeben, dass du dich entschieden hast, ein Buch zu schreiben?

Ich habe in den letzten Jahren unzählige Kurse gegeben für Eltern und pädagogische Fachpersonen über die Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern. Dabei habe ich gemerkt, wie sprachlos und überfordert viele Erwachsene in Bezug auf dieses Thema sind. Jeweils am Ende der Veranstaltungen wurde ich zudem gefragt, welches Buch ich denn empfehlen könne, um Kinder über sexualisierte Gewalt aufzuklären. Ich konnte keins empfehlen – und habe kurzerhand entschieden, selber eins zu schreiben

Agota Lavoyer
Wenn Männer so viel Macht haben, dass sie in dem Ausmass sexualisierte Gewalt ausüben können, dann haben sie auch die Macht, sexualisierte Gewalt zu beseitigen.

Inwiefern haben deine Kinder und das Muttersein dein Schaffen als Autorin befeuert oder gebremst?

Einerseits ist es als Mutter viel schwieriger, Zeit zu finden zum Schreiben. Sobald man nach der Arbeit zu Hause ist, sind die Kinder da. Da bleibt wenig Zeit zum Schreiben. Ohne die grosse Unterstützung meines Partners hätte ich das Buch nicht schreiben können. Er hat mir in der ganzen Zeit den Rücken frei gehalten, den Mental Load zum Teil fast gänzlich übernommen und mich immer wieder ermutigt, dranzubleiben und mir die Zeit dafür zu nehmen. Ohne ihn hätte ich als Mutter das Buch nicht schreiben können.

Gleichzeitig befeuerte mich das Muttersein, da ich täglich vor Augen geführt bekomme, wie abhängig Kinder von uns Erwachsenen sind. Wie leicht manipulierbar sie sind und wie präsent die Themen Nähe, Grenzen und Grenzverletzungen im Leben der Kinder sind. So habe ich denn mein Buch auch meinen Kindern gewidmet.

Wie hast du die Disziplin aufgebracht, deine Idee auch wirklich in die Tat umzusetzen?

Es war in der Tat schwieriger, Zeit fürs Schreiben zu finden, als ich mir vorgestellt hatte. Eine Zeit lang habe ich daneben noch Vollzeit gearbeitet. Vor allem habe ich gemerkt, dass ich in die kreative Arbeit des Schreibens eintauchen können muss, damit es fliesst. Ein paar Stunden am Abend, wenn die Kinder schon im Bett waren, reichten dafür nicht aus. Deshalb ging ich Anfang Jahr für einige Tage in ein Hotel. In diesen Tagen entstanden die wichtigsten Texte des Buchs. Meine grösste Motivation war immer die tiefste Überzeugung, dass mein Buch gebraucht wird – und zwar dringend.

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Wusstest du schon zu Beginn, welche Schlüsse du ziehen wirst?

Ja. Aber ich habe erst während des Schreibprozesses verstanden, dass das Buch umfangreicher sein muss als ursprünglich geplant. Weil ohne fundiertes Wissen über sexualisierte Gewalt auch der Schutz davor nicht gelingen kann.

Wer durfte deinen Entwurf zuerst lesen?

Mein Partner, er ist Sozialarbeiter und Kinderschutzexperte. Nicht nur waren seine Rückmeldungen fachlich sehr fundiert, ich wusste auch, dass er schonungslos ehrlich ist. Und dass er sich nicht scheuen wird, den Text zu kritisieren.

Wer muss dein Buch dringend lesen?

Alle, die mit Kindern zu tun haben: Eltern, Grosseltern, weitere Bezugspersonen, Lehrpersonen, Sozialarbeitende, Therapeut:innen und alle, die im Freizeitbereich (Sport, Pfadi, Musik, etc.) mit Kindern arbeiten.

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Wie bereit ist die Welt für dein Buch?

Mein Buch erreichte in der ersten Woche den ersten Platz der Schweizer Bestsellerliste in der Sparte Kinder- und Jugendbuch. Das zeigt für mich nicht nur, dass das Buch gut ist, sondern viel mehr noch: dass es das Buch braucht. Ich habe wirklich das Gefühl, viele haben genau auf so ein Buch gewartet. Die Welt, zumindest die deutschsprachige, ist bereit, sich endlich eines der grössten Tabus anzunehmen: sexualisierte Gewalt an Kindern.

Wie bringt man Männer dazu, dein Buch zu lesen?

Sich mit sexualisierter Gewalt an Kindern auseinanderzusetzen, heisst gleichzeitig auch, sich damit auseinanderzusetzen, zu welch grausamen Taten Menschen fähig sind. Und anzuerkennen, dass diese Menschen überwiegend Männer und höchstwahrscheinlich auch im eigenen Umfeld zu finden sind. Dieser Gedanke überfordert. Und während ich bei Frauen sehe, dass sie dieser Überforderung entgegenwirken wollen, indem sie sich Wissen aneignen, wenden sich Männer eher vom Thema ab. Umso mehr wünsche ich mir, dass mein Buch auch von Männern und Vätern gekauft wird. Wenn sie es nicht selber tun, sollten wir ihnen das Buch schenken.

Agota Lavoyer
Ich habe wirklich das Gefühl, viele haben genau auf so ein Buch gewartet.

In einem Satz: Warum soll man dein Buch lesen?

Damit man die Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern mit mehr Stärke, Sicherheit und Souveränität angehen kann – wir schulden es unseren Kindern!

Über welche weiteren Themen möchtest du schreiben?

In meinem Kopf steht die Idee für mein nächstes Projekt schon: ein Buch über die sogenannte Rape Culture. Über unsere kulturellen Normen und Haltungen, die dazu führen, dass sexualisierte Gewalt immer noch bagatellisiert, toleriert oder gar ignoriert wird und die Opfer stigmatisiert und im Stich gelassen werden. Das Buch möchte ich insbesondere auch für junge Männer schreiben.

Illustration Fabienne Iten

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