Wie wäre unsere Welt, wenn wir Sprache nicht dazu nutzen würden, Menschen in Kategorien zu unterteilen, sondern sie als Individuen sehen würden? Dieser Frage geht Kübra Gümüşay in ihrem Buch «Sprache und Sein» nach. Sie analysiert, wie Sprache unser Denken, unsere Politik und damit unser gesellschaftliches Zusammenleben prägt. Und sie zeigt, wie wir durch eine Sprache, die Menschen in ihrem Facettenreichtum abbildet, zurückfinden können zu einem Dialog auf Augenhöhe.

«Sprache und Sein» ist 2020 erschienen. Was hat für dich den Ausschlag gegeben, dieses Buch zu schreiben?

Fast ein Jahrzehnt war ich Teil der öffentlichen, politischen Diskurse, hielt sie aber kaum noch aus. Destruktiv ging es einher, ohne Verantwortungsbewusstsein für unsere Worte, die Diskurse und die Art, wie wir sie führen. Ich wollte verstehen: Woher rührt diese Destruktivität? Was ist es, was uns prägt und formt? So grub ich, tiefer und tiefer, bis ich auf eine Struktur stiess, die hart genug war, um sie zu ergründen, zu verstehen und an ihr zu arbeiten. Diese Struktur war für mich die Sprache.

Wie bereit ist denn die Welt für dein Buch?

Sie ist sehr bereit!

Kübra Gümüşay
Viele Erfahrungen lassen sich erst im Rückblick als sexistisch und rassistisch einordnen – in dem Moment, in dem sie einem widerfahren, glauben viele noch, es sei eine Ausnahme, ihre eigene Schuld, ein Missverständnis, ein individuelles Problem.

Welches Hoch und welches Tief hast du beim Schreiben erlebt?

Ich erinnere mich genau an die Momente der Angst vor der Einsamkeit. Angst davor, mich beim Denken und Dekonstruieren zu verirren. Angst, dass sich eine Tür hinter mir schliessen könnte, bevor ich Worte geschaffen hatte, um diese dauerhaft für alle anderen aufzuschliessen. Mein Mann und mein Lektor waren beide Menschen, die mich immer wieder an diese abgelegenen Orte des Denkens begleiteten, mir die Tür offen hielten und die Einsamkeit des Denkens und Schreibens nahmen.

Was hast du im Schreibprozess gelernt?

Ich habe eine unfassbar tiefe und eine befreiende Demut angesichts der Schönheit und Komplexität der Welt gespürt. Meine eigene Begrenztheit zu spüren, an meine Grenzen zu kommen und diese zu überwinden, war eine unfassbar emanzipative Erfahrung. Etwas, wonach ich seither ständig strebe.

Wusstest du schon zu Beginn deiner Arbeit, welche Schlüsse du in deinem Buch ziehen wirst?

Nein, ich bin mit Fragen losgezogen. So gehe ich auch an das neue Buch heran, und diese Herangehensweise bereitet mir grosse, tiefe Freude.

Was war das schönste Kompliment, das du für dein Buch erhalten hast?

Ich kann es noch immer nicht fassen. Jeden Tag erhalte ich Briefe, Kommentare und Nachrichten von Menschen, die davon erzählen, wie sich ihr Leben mit der Lektüre komplett gewandelt hat, wie sie zur Sprache gefunden habe oder sich zum ersten Mal gesehen gefühlt haben. Es täte jedem einzelnen dieser Menschen Unrecht, wenn ich daraus das schönste Kompliment wählen müsste. Sie alle sind für mich grosse, aussergewöhnliche Geschenke.

Und was war die schlimmste Beleidigung?

Schade finde ich es um die Menschen, die es nicht schaffen, ein Buch und sich selbst zu öffnen. Doch selbst bei vielen dieser Menschen habe ich folgende Erfahrung gemacht: Es gab und gibt zahlreiche Menschen, die zu Lesungen kamen mit der Absicht zu stören, aufgeladen und voller Wut. Die dann hörten, verstanden – und nach der Lesung zu mir kamen, um sich zu entschuldigen. Nach nahezu jeder Lesung habe ich diese Erfahrung gemacht. Ein jedes Mal bitterschöner Moment, für den ich sehr dankbar bin.

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Wann und wie bist du zur Feministin geworden?

Es gab nicht den einen Schlüsselmoment, sondern vielmehr den schleichenden Prozess eines Verbindens der einzelnen Punkte: Erfahrungen, Beobachtungen, Informationen, Geschichten, Erlebnisse mit und über Sexismus, die über Jahre die Strukturen entlarvten, die uns umgeben. Viele Erfahrungen lassen sich erst im Rückblick als sexistisch und rassistisch einordnen – in dem Moment, in dem sie einem widerfahren, glauben viele noch, es sei eine Ausnahme, ihre eigene Schuld, ein Missverständnis, ein individuelles Problem. Als ich ein Bewusstsein für die strukturelle Dimension entwickelte, wurde ich auch bewusst zur Feministin. Da war ich schon 17 oder 18 Jahre alt. Unbewusst spürte ich die strukturellen Probleme aber lange vorher.

Was braucht es für eine feministische Weltrevolution?

Eine tiefe und tatsächliche Solidarität mit anderen Gerechtigkeitsbewegungen – gegen die Klimakrise, Armut, alle Formen von Rassismus und Antisemitismus, Kolonialisierung und Ausbeutung. Wider eine neoliberale, kapitalistische Gesellschaft, die uns durch eine fatale Illusion glauben lässt, wir müssten nur hart genug arbeiten, um glücklich und frei zu sein. Wir sind für einander verantwortlich, miteinander verwoben, verbunden. Es geht nur gemeinsam, miteinander. Mit der Natur, allen Lebewesen und Mitmenschen.

Du bist selbst Mutter. Wie gelingt deiner Meinung nach eine feministische Erziehung, möglichst frei von Stereotypen?

Das Begleiten eines jungen Menschen hinein in eine Welt, die ungerecht, gewaltvoll und unterdrückend ist, eine Welt, die wir als Eltern eigentlich verändern wollen, gelingt nur so: über das Vorleben davon, wie veränderlich diese Welt ist. Dass ein gerechteres Morgen möglich ist. Durch das Benennen der Missstände im Heute, dem Imaginieren und Streiten für eine gerechtere Zukunft. Ein Balanceakt, der machbar ist.

Inwiefern hat das Muttersein dein Schaffen als Autorin befeuert oder gebremst?

Beides. Ich brauche beim Schreiben einige Tage ohne Unterbrechung, um den Tiefgang beibehalten zu können. Mit kleinen Kindern ist das nicht immer möglich. Gleichzeitig führen uns Kinder sehr viele Absurditäten und Missstände unserer Gesellschaft vor Augen – die Entfremdung voneinander, die Isolation, die Ignoranz vor unserer Abhängigkeit, die Ungerechtigkeiten in der Sorge, der Pflege und vieles mehr. Für meine Tätigkeit als Autorin: befeuernd.

Wer durfte deinen Entwurf zuerst lesen?

Oft mein Mann und ein Lektor. Aber je nach Kapitel waren es einige meiner Denkpartner:innen, die ich in meinem Leben haben darf.

Kübra Gümüşay
Mich inspirieren Menschen, die ihr Leben in den Dienst einer gerechteren Welt gestellt haben, dabei aber selbst nach 60 oder 70 Jahren Engagement nie verbittert und hart, sondern gütig, weise und freudvoll geblieben sind.


In einem Satz: Warum soll man dein Buch lesen?

Um die Welt ein Stück weit besser zu verstehen und um sich eine gerechtere Welt ein Stück weit besser vorstellen zu können.

Wie bringt man Männer dazu, dein Buch zu lesen?

Man kann einfach die ersten zwei Seiten vorlesen, der Rest kommt von allein.

Wer inspiriert dich?

Mich inspirieren Menschen, die ihr Leben in den Dienst einer gerechteren Welt gestellt haben, dabei aber selbst nach 60 oder 70 Jahren Engagement nie verbittert und hart geworden, sondern gütig, weise und freudvoll geblieben sind.

Über welche weiteren Themen möchtest du schreiben?

Aktuell denke ich über Utopien und Zukünfte nach.

©Privat

Kübra Gümüşay gilt als eine der einflussreichsten Journalistinnen und politischen Aktivistinnen Deutschlands. Sie hat in Hamburg Politikwissenschaften studiert und war an der Londoner School of Oriental and African Studies.

Sie war Kolumnistin der tageszeitung, Bloggerin und stand mehrfach auf der TEDx-Bühne. Sie ist Initiantin diverser ausgezeichneter Kampagnen und Vereine, die sich mit Gleichstellung und Feminismus befassen. Dazu zählen der feministische Co-Creation Space eeden in Hamburg, die feministischen Research- und Advocacy-Organisation future_s oder das feministische Bündnis #ausnahmslos.

Derzeit ist Kübra Gümüşay Mercator Senior Fellow am CRASSH und am LCFI an der University of Cambridge. Ihr Buch «Sprache und Sein» ist ein Bestseller.