«Das beherrschte Geschlecht: Warum sie will, was er will» von Sandra Konrad führt durch die Geschichte weiblicher Sexualität und entlarvt dabei bis heute wirksame Geschlechterklischees und unbewusste Rollenvorgaben – immer auf der Suche nach der Antwort auf folgende Frage: Wie frei, gleichberechtigt und sexuell selbstbestimmt sind Frauen im 21. Jahrhundert?

Sexualität ist mehr als nur Sex – es geht um Rollenzuschreibungen, Regeln und Rechte. Es geht um Verschmelzung und Abgrenzung. Es geht um Lust und Liebe und viel zu oft um Gewalt. Es geht um Macht und Ohnmacht: um männliche Herrschaft und weibliche (Selbst)-Beherrschung.

Sandra Konrad ist Psychologin und Sachbuchautorin. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit hat sie mehrgenerationale familiäre Weitergaben (besonders in Bezug auf Traumata) untersucht. Heute arbeitet sie in Hamburg als Therapeutin und bietet systemische Einzel-, Paar- und Familientherapien an.

Wann bist du Feministin geworden?

Meine Grossmutter, die ich sehr geliebt habe, hatte als Frau ihrer Generation keine Stimme, und das hat mich schon als kleines Mädchen empört. Ich bin mit zwei Brüdern aufgewachsen und hatte immer das Gefühl, dass mir das Gleiche zusteht wie ihnen und dass ich das Gleiche wie Männer erreichen kann. Die strukturellen Ungerechtigkeiten sind mir erst viel später aufgefallen. Auch die zum Teil cleveren patriarchalischen Unterdrückungsstrategien, die dazu führen, dass Frauen sich unbewusst oft eher mit männlicher Macht als mit Frauen solidarisieren, sind mir erst als Erwachsener so richtig bewusst geworden. Mein Buch ist ein kleiner Beitrag, um darüber aufzuklären, wie wichtig es ist, sich für die Rechte von Frauen einzusetzen, feministisch zu denken und zu handeln.

Sandra Konrad
Auch die zum Teil cleveren patriarchalischen Unterdrückungsstrategien, die dazu führen, dass Frauen sich unbewusst oft eher mit männlicher Macht als mit Frauen solidarisieren, sind mir erst als Erwachsener so richtig bewusst geworden.

Was möchtest du in Bezug auf Sexismus nie mehr erleben oder hören?

«Stell dich mal nicht so an.» Denn wenn Menschen, die aufgrund ihres Geschlechtes benachteiligt und herabgewürdigt werden, sich «nicht anstellen» und so tun würden, als sei alles in Ordnung, ändert sich nichts. Und das wäre fatal, denn Sexismus ist der Nährboden für sexualisierte Gewalt. Gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass nicht nur die Betroffenen den Mund aufmachen und sich wehren, sondern dass auch die Umstehenden den Mut haben, sich deutlich gegen Sexismus zu positionieren.

Wo stellst du Backlashes fest?

In den USA, einem Land, das ich sehr mag und in dem viele Freunde von mir leben, ist der Hälfte der Bevölkerung gerade das Recht auf die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper genommen worden, nachdem Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe gestellt wurden. Das macht mich fertig. Während Schusswaffen auch nach dem zigsten Amoklauf frei verfügbar sind, werden Frauen entmündigt und im Falle einer unerwünschten Schwangerschaft in Gefahr gebracht. Es ist unerträglich, dass Frauen auf der ganzen Welt noch immer für ihre Rechte kämpfen müssen.

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Dein Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie frei und sexuell selbstbestimmt Frauen im 21. Jahrhundert sind. Welches Fazit ziehst du in Bezug auf diese Frage?

Die meisten der von mir befragten jungen Frauen antworten darauf: Total frei – obwohl sie sich immer wieder auf sexuelle Kontakte und Praktiken einliessen, die ihnen nicht gefielen und bei denen es weniger um ihre eigenen Lust als um die ihres Partners ging.

Woher kommt das?

Weibliche Sexualität wurde jahrhundertelang kontrolliert, diktiert und organisiert – erst von Männern, dann von Müttern und schliesslich von den Frauen selbst. Lust war ein männliches Privileg, Frauen sollten von Natur aus passiv und zurückhaltend sein. Die Auswirkungen der Unterdrückung zeigen sich bis heute bei vielen Frauen in einem entfremdeten Körpergefühl, Ess-, Libido- und Orgasmus-Störungen und einer «typisch weiblichen», vorauseilenden Anpassungsfähigkeit.

Für Frauen ist das Tabu des 21. Jahrhunderts nicht mehr, Sex zu haben, sondern Grenzen zu setzen. Auch wenn Frauen heute viel mehr Freiheiten als je zuvor haben, wird über weibliche Sexualität immer noch hart geurteilt – wenn sie sich nicht an die Normen halten, werden Frauen als Schlampe, nuttig oder als prüde, verklemmt beschimpft. Es gibt immer noch einen Abgrund aus Scham und Beschämung, in den Frauen leicht rutschen können. Also ist es sicherer, sich an gängigen Normen auszurichten als an den eigenen Bedürfnissen. Aus der ehemals unterdrückten Frau wurde nach und nach die Frau, wie wir sie heute kennen: Die Frau, die funktioniert. Die Frau, die versucht, alles, was von ihr erwartet wird, zu erfüllen. Die Frau, die sich selbst beherrscht.

Sandra Konrad
Lust war ein männliches Privileg, Frauen sollten von Natur aus passiv und zurückhaltend sein. Die Auswirkungen der Unterdrückung zeigen sich bis heute bei vielen Frauen in einem entfremdeten Körpergefühl, Ess-, Libido- und Orgasmus-Störungen und einer «typisch weiblichen», vorauseilenden Anpassungsfähigkeit.

Dein Buch besteht aus fünf Kapiteln. Welche Themen decken diese ab?

Kapitel 1: «Weibliche Lust und männliche Normen oder sie will, was er will» analysiert die Geschichte der weiblichen Lust: wie Frauen gefürchtet, unterdrückt und pathologisiert wurden, wie sie sich im Rahmen der sexuellen Revolution befreiten und dennoch bis heute trotz aller errungenen Freiheiten unbewusst nach männlichen Normen richten. Ich beschreibe, wie männliche Herrschaft in weibliche Selbstbeherrschung überging.

Kapitel 2: «Pornografie und Prostitution oder der Traum von der immergeilen Frau» beleuchtet am Beispiel von Prostitution die Doppelmoral und das Machtgefälle, die weibliche und männliche Sexualität seit Urzeiten bis heute durchziehen, und wie beide Geschlechter versuchen, über den Einsatz ihres jeweiligen Kapitals (Körper/Geld) ihre Ohnmacht abzuwehren. Die Frage des freien Willens der «Sexarbeiterinnen», der immer wieder von Freiern und Prostituierten selbst hervorgehoben wird, wird kritisch diskutiert. Und es wird erklärt, wie Pornographie dazu führt, dass Gewalt an Frauen legitimiert wird.

Kapitel 3: «Sexualisierte Gewalt oder warum Frauen eigentlich selbst schuld sind» zeigt die verschiedenen Arten von sexualisierter Gewalt, die mit alltäglichem, kaum wahrgenommenen Sexismus beginnen und sich in alle Ebenen menschlicher Kommunikation eingeschlichen haben. Patriarchalische Gesetze beschneiden die Grundrechte der Frau weltweit – auch in Deutschland, denn Vergewaltigungsopfer haben keinen ausreichenden Schutz, was sich nicht zuletzt in der hohen Dunkelziffer nicht angezeigter Taten beweist.

Kapitel 4: «Zwischen Sexobjekt und Sexgöttin – Subjekt des Begehrens werden» diskutiert die widersprüchlichen Frauenbilder des 21. Jahrhunderts – weibliche Sehnsüchte, Rivalitäten, Schwierigkeiten und selbst gewählte Widerstände, die Frauen derzeit hindern, ihr volles Potenzial zu entfalten. Die Freiheiten sind da oder könnten gemeinsam erkämpft werden, aber der Weg von Selbstbeherrschung zu Selbstbestimmung erfordert die bewusste Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse, Rechte und Träume. Und etwas, was traditionell nur selten gelebt wurde: weibliche Solidarität.

Kapitel 5: «Was will das Weib? Zwischen sexueller Freiheit und Selbstbestimmung» hinterfragt das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Selbstbestimmung und wie Frauen heute sowohl ihre Sexualisierung als auch ihre Unterwerfung als Gipfel der Emanzipation verkauft wird. Frauen wachsen immer noch in einer Welt auf, in der sie lieber gefallen als bestimmen wollen, und da muss es uns nicht verwundern, dass für viele Frauen das Prädikat «gut im Bett» wichtiger ist, als sich gut im Bett zu fühlen.

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Welche eigene Entwicklung hast du beim Schreiben durchgemacht?

Dieses Buch war emotional sehr anstrengend zu schreiben. Die Recherche war nicht nur vom Umfang her erschlagend, sondern hat mich zudem auch wütend und traurig gemacht. Die Gewalt, die Frauen bis heute auf vielen Ebenen erfahren, hat mich schockiert – im Internet, auf der Strasse, nicht mal in ihrer Partnerschaft sind sie sicher. Zwei Drittel aller Frauen haben bereits Cybergewalt erfahren, jede siebte Frau wurde allein in Deutschland Opfer von sexualisierter Gewalt, und jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner ermordet. Mir war wichtig, die Zusammenhänge zu verstehen und zu erklären: Was Gewalt gegen Frauen mit traditionellen Männer- und Frauenbildern zu tun hat, wie männliche Gewalt bagatellisiert wird und wie Frauen zum Schweigen gebracht werden, wie Frauen nach wie vor beschämt werden, wenn sie aus ihrer «weiblichen» Rolle fallen, die die Gesellschaft gerade für sie vorgesehen hat.

Wie können sich Frauen von diesen Rollenzuschreibungen befreien?

Traditionelle Herrschaftsverhältnisse werden im Rahmen eines modernen Geschlechterkampfes mal angegriffen, mal reinszeniert, grundsätzlich jedoch verleugnet. Solange beide Geschlechter in die Abwehr ihrer Ohnmacht verstrickt bleiben, können sie weder die wechselseitige Abhängigkeit, noch den Wert des jeweils anderen anerkennen. Erst das bewusste Hinterfragen der «typisch» männlichen und weiblichen Rollen kann beide Geschlechter befreien: in ihrem Denken, in ihrem Fühlen und in ihrer Sexualität.

Was würdest du heute in deinem Buch anders schreiben?

Ich würde nichts anders schreiben, aber ich würde darauf bestehen, dass die Quellenangaben im Text über Endnoten nachvollziehbar und somit für die interessierten Leser:innen direkt recherchierbar sind. Meine Lektorin und der Verlag waren der Meinung, dass das nicht nötig sei, und das quält mich bis heute, weil der einfache Zugang zu den Studien zu einer direkten Nachvollziehbarkeit meiner Thesen geführt und viel Widerstand vermieden hätte.

Sandra Konrad
Unsere Gesellschaft ist heute zwar etwas sensibilisierter für Ungerechtigkeiten, aber vor allem dann, wenn die Skandale in weiter Entfernung stattfinden und nichts mit uns zu tun haben. Wenn es darum geht, vor der eigenen Tür zu kehren, ist die Bereitschaft, sich mit genderspezifischen Ungerechtigkeiten auseinanderzusetzen, sehr viel geringer.

Wie bereit ist die Welt für dein Buch?

Ich habe das Buch vor #MeToo geschrieben, und da habe ich häufig gehört: Wer soll das denn lesen? Weibliche sexuelle Selbstbestimmung, Sexismus, Gewalt an Frauen – das interessiert doch keinen. Und dann wurden die Themen plötzlich auf der Weltbühne diskutiert, direkt zum Erscheinungstermin meines Buches.

Unsere Gesellschaft ist heute zwar etwas sensibilisierter für Ungerechtigkeiten, aber vor allem dann, wenn die Skandale in weiter Entfernung stattfinden und nichts mit uns zu tun haben. Wenn es darum geht, vor der eigenen Tür zu kehren, ist die Bereitschaft, sich mit genderspezifischen Ungerechtigkeiten auseinanderzusetzen, sehr viel geringer.

Das Positive ist, dass es seit #MeToo viele feministische Bucherscheinungen gab, die weitaus mehr Aufmerksamkeit bekommen haben als in den Jahren zuvor. Insofern hoffe ich, dass mein Buch etwas zur Aufklärung beitragen kann, auch bei jenen, die glauben, dass Gleichberechtigung und weibliche Selbstbestimmung längst normal sind – wir haben da nämlich immer noch einiges zu tun.

Über welche weiteren Themen möchtest du schreiben?

Gerade schreibe ich an einem Buch über die Ablösung von den Eltern, das im Frühjahr 2023 erscheint. Meine Buchthemen kreisen oft um die Frage, warum wir sind, wie wir sind: Wie die Vergangenheit uns geprägt hat, aber auch, was wir heute tun können, um unser Leben selbstbestimmt zu gestalten. Und die Ablösung von den Eltern ist ein langer, vielleicht lebenslanger, aber auch ein lohnender Prozess, denn er führt uns einerseits zu uns selbst, andererseits verbessert er unsere Beziehungen – auch die zu unseren Eltern.

Wer inspiriert dich?

Menschen, die sich einsetzen für mehr Gerechtigkeit. Die mutig sind, die um die Ecke denken, die sich nicht zufriedengeben mit dem Status quo. Menschen, die mitdenken und mitfühlen.

Illustration Fabienne Iten