Er lädt zum Interview ins «schönste Büro von Zürich»: Klimaphysik-Professor Reto Knutti. Klingt nach grossen Worten, stellt sich indes als wahr heraus. An diesem Herbstmorgen präsentiert sich Zürich aus Knuttis hellem ETH-Büro von seiner schönsten Seite, am Horizont thronen die Alpen wie ein Gemälde.

Reto Knutti ist gut gelaunt, den Arbeitsdruck merkt man einem der weltweit führenden Klimaforscher nicht an. Der Mann ist mehrmals sichtlich irritiert ob der Männerfragen und antwortet vielleicht gerade deswegen entwaffnend ehrlich. Ein Gespräch über Liga-A-Karrieren, den Preis dafür – und darüber, ob unsere Welt noch zu retten ist.

Du hast mehrere UNO-Berichte des Weltklimarats IPCC mitverfasst. Fragst du dich nie, so als Mann, ob du schlau genug für die Forschung bist?

(Stutzt kurz, fängt sich.) Doch, jeden Tag sogar. Die schlausten Leute leiden oft unter dem Impostor-Syndrom, dem Hochstapler-Syndrom. Ich frage mich: Bin ich gut genug, oder hätte ich es besser machen, sagen, schreiben können?

Klingt nach viel Druck. Wie gehst du damit um?

Ich will stets lernen. Aus dem, was andere machen, aus dem, wie ich etwas gemacht habe. Man lernt nie aus, egal in welcher Position.

Du hast eine steile Karriere hingelegt.

Das würde ich nicht unterschreiben.

(Verblüfft.) Du leidest neben dem Hoch- auch am Tiefstapler-Syndrom?

(Verzieht das Gesicht.) Ich mag keinen Personenkult. Ich finde, es sollte um die Sache gehen. Nicht meine Karriere und meine Sichtbarkeit sind mir wichtig, sondern die Frage, ob wir und ich etwas zur Lösung der Klimafrage beigetragen haben. Ich habe viel Glück gehabt, dass ich hier an der ETH eine Stelle gefunden habe, die mir erlaubt, das zu tun, was wir tun.

Von wie vielen Frauen bist du überholt worden auf der Karriereleiter, obwohl du besser warst als sie?

(Schweigt.)

(Schweigt auch.)

Ich weiss nicht, wie ich diese Frage beantworten soll. Aber ich sehe die Intention. Die Frage zeigt, wie das System aufgebaut ist. Und dass man als Mann mit vielen Fragen gar nie konfrontiert wird.

Reto Knutti
Das System ist nicht darauf ausgelegt, neben der Forschung auch Familie oder andere Verpflichtungen zu haben.

Ich frage, weil vor allem Männer die Wissenschaft verlassen, bedingt durch das toxische Arbeitsklima. Warum hast du durchgehalten? 

Ah, jetzt verstehe ich – Ironie. Ich hatte auch Glück. Es gibt in der Wissenschaft einfach nicht genügend Positionen für alle. Das System ist nicht darauf ausgelegt, neben der Forschung auch Familie oder andere Verpflichtungen zu haben. (Pause.) Ich habe interessante Diskussionen gehabt mit einem früheren ETH-Präsidenten. Ohne Namen zu nennen, ich glaube, das darf ich hier sagen …

Nur zu. (Grinst.)

Es ging um eine Teilzeitanstellung in der Wissenschaft, konkret meine. Jener ETH-Präsident hatte mir gesagt: Wenn Sie an die Olympiade wollen, können Sie nicht 80 Prozent trainieren. Das war das Ende der Diskussion bezüglich der Teilzeitanstellung. 

Wie ging das zu Hause mit den Kindern? Frau sei Dank?

Ich habe eine Möglichkeit gefunden, gleichwohl meinen Teil beizutragen bei der Kindererziehung. Aber: Meine Karriere ging zum Teil auf Kosten der Karriere meiner Familie. Und es ging natürlich auch auf Kosten der Freizeit. Ich arbeite zu viel. 

Was macht das mit dir?

Es stimmt mich nachdenklich und traurig, dass wir es trotz jahrzehntelanger Diskussionen nicht geschafft haben, ein System zu konstruieren, wo beides Platz hat. Also Familie und Karriere. Wir klagen über zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte und haben immer noch einen substanziellen Teil von Leuten in der Schweiz, die nicht auf ihrem Niveau arbeiten können, weil es zeitlich unrealistisch ist. In der Schweiz gilt nach wie vor: Top-Positionen gehen nicht unter 100 Prozent. 

Höchste Zeit, das zu ändern. Oder?

Ja.

Was ist dir wichtiger: Job oder Familie?

(Ohne zu zögern.) Auf jeden Fall die Familie. Ich glaube, ich könnte auch in einem anderen Job glücklich werden. Aber ich würde den Job hier ungern aufgeben, weil ich eine Riesenfreude daran habe – und das Gefühl, etwas Wichtiges für die Welt zu tun. 

Reto Knutti
«Seid ein bisschen lieb zueinander» funktioniert beim Menschen nicht. 

Sprechen wir über den Klimawandel: Setzt du dich fürs Klima ein, weil Männer global überdurchschnittlich stark davon betroffen sind?

Es sind die Frauen, die mehr betroffen sind. 

Das war ironisch. 

Ah, gut. Betroffen sind vor allem die älteren Frauen. Die Übersterblichkeit in Hitzewellen ist grösser bei Frauen als bei Männern. Das war die Basis der Klage der Klimaseniorinnen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 

Wie ist die Schweiz mit ihren Massnahmen fürs Klima unterwegs?

Ungenügend, so wie fast alle Länder. Wir haben zwar ein einigermassen ambitioniertes Ziel mit Netto-Null bis 2050, aber wir setzen es ungenügend um. Parlament und Bundesrat wollen keine weiteren Instrumente, um die Umsetzung voranzutreiben.

Du als Mann gehörst zum emotionalen Geschlecht. Ernsthaft: Was machst du, damit du die Hoffnung nicht verlierst? 

Es ist oft frustrierend. Wenn man das Gefühl hat, man versteht das Problem eigentlich – aber es passiert einfach fast nichts. Dass aus den Fakten kaum politische Handlungen folgen, ist frustrierend.

2019 hatten wir die Klimawahl, jetzt spricht gefühlt niemand mehr vom Klima. Warum?

Das hat verschiedene Gründe. Das eine sind vermeintlich unmittelbar dringendere Probleme: Krieg, Geopolitik, Zoll, Schuldenbremse, AHV, Einwanderung, was auch immer. Heute dominiert die Haltung: Die Welt retten wir dann übermorgen. Ich habe mal in einem Interview gesagt: Der Mensch ist dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig. Das hat mir Kritik eingebracht, aber es hat etwas. Wir sind nicht fundamental dumm, aber wir verstehen die Dringlichkeit des Problems nicht ganz. Zum anderen sind wir ungern bereit, zu verzichten, und denken primär an uns im Jetzt und Hier. Das macht die Lösung von Klimafragen sehr schwierig.

Stichwort Schuldenbremse. Der Bundesrat will sparen. Das geht auch auf Kosten von Bildung, Forschung und Klima. Wer zahlt für die Schäden des Klimawandels, Stichwort Blatten

Wir alle. Über die Gebäudeversicherung, über Nahrungsmittelpreise, über Krankenkassenprämien. Eine ambitionierte und faire Klimapolitik wäre, wenn der Verursacher für seine Schäden aufkommt. So, wie das bei fast allen anderen Umweltfragen wie Abfall oder Abwasser der Fall ist. Das würde heissen, es braucht einen Preis auf CO2.

Was kann ich als kleiner Mensch beitragen zum Schutz des Klimas?

Sehr viel.

Muss ich nicht vor allem richtig wählen und abstimmen?

Das kann ich auch noch. Dennoch: Ich spreche von individueller Verantwortung. Ich kann ein batterieelektrisches Fahrzeug kaufen. Oder gar keines. Ich kann meine Heizung ersetzen, ich kann weniger tierische Produkte essen, und ich kann viel weniger fliegen. Würde jeder und jede den Lebensstil entsprechend anpassen, wären wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent der Klima-Probleme von heute auf morgen erledigt. 

60 bis 70 Prozent? Ich dachte, die grossen Unternehmen sind Hauptverursacher, nicht Privatpersonen?

Ja. Ein Problem ist aber eben auch, dass die wenigsten Menschen ihren Lebensstil anpassen. Ausser, sie müssen es, weil der politische Rahmen es vorgibt. Oder sie wollen es, weil es ökonomische Anreize gibt. Wenn man in die Geschichte der Umweltfragen geht, wurde ein solches Problem nie mit individueller Verantwortung allein oder mit spontaner Technologie allein gelöst. Egal ob Abfall, Abwasser, Asbest, Luftqualität, Phosphat, Pestizide, Pandemie oder das Ozonloch. «Seid ein bisschen lieb zueinander» funktioniert beim Menschen nicht. 

Reto Knutti
Die Welt ist unfair, und sie wird immer unfairer, tendenziell. Die Macht und das Geld liegen bei wenigen Personen – primär bei älteren Generationen und Männern.

Welche Rolle spielen patriarchale Strukturen bei der Bewältigung oder Verschärfung der Klimakrise?

Die Welt ist unfair, und sie wird immer unfairer, tendenziell. Die Macht und das Geld liegen bei wenigen Personen – primär bei älteren Generationen und Männern. Aber es ist nicht nur eine Mann-Frau-Diskussion. 

Themenwechsel: Hast du in deiner Karriere Sexismus erlebt?

Nein. Es erschreckt mich ein bisschen, diese Antwort zu geben, weil ich weiss, dass es ganz vielen Frauen anders geht. Man wird damit als Mann selten konfrontiert. 

Kennst du Lohnungleichheit?

Nochmals nein. Die ETH Zürich, würde ich behaupten, übrigens auch nicht, da wir Lohnbänder haben. 

Glück gehabt, Ellbögeln könnt ihr Männer ja kaum.

(Grinst.)

Wie stark hat dein Aussehen beim Aufstieg geholfen?

Ich hoffe gar nicht. Ich hoffe, Wissenschaftler:innen werden aufgrund fachlicher Qualifikation beurteilt. Für Wissenschaftler lohnt es sich aber sicher, ein bisschen crazy auszusehen, so einsteinmässig mit Strubbelhaaren.

Du siehst angepasst aus mit deinem Hemd und den akkurat geschnittenen Haaren. 

Weil ich es nicht mag, wenn es zu stark um mich geht. Ich versuche immer, die Sache ins Zentrum zu stellen. Wobei das nicht ganz so einfach ist, weil die Medien den Kopf wollen.

Du bist 52, also seit zwölf Jahren als Mann unsichtbar für die Gesellschaft. Was macht das mit dir?

Was meinst du mit unsichtbar? 

Bei Frauen sagt man, ab 40 würden sie unsichtbar für die Gesellschaft.

Das würde ich nicht unterschreiben, nicht in unserem Gebiet. Zumindest bei Männern ist es so, dass man je älter, je sichtbarer wird.

Dank des Äusseren oder des Inhalts?

Weil typischerweise die Karriereentwicklung so geht, dass man ab 50 in einflussreiche Positionen wie eine Geschäftsleitung kommt oder CEO wird. 


Abschliessend: Können wir den Klimawandel stoppen, die Welt noch retten?

Wir könnten. Wir können den Klimawandel nicht einfach rückgängig machen, aber wir könnten ihn auf der heutigen Stufe stabil halten. Vorausgesetzt, wir bringen die Emissionen in Einklang mit dem Netto-Null-Ziel. Wir könnten das technisch und finanziell; ob wir es wollen, ist eine andere Frage. Der politisch-gesellschaftliche Wille dafür ist nur ungenügend vorhanden.

Weht dir als Klimaforscher international – Stichwort Donald Trump statt Al Gore – heute ein anderer Wind entgegen?

Massiv, ja. Aber Trump ist nur ein Element davon. Eines, das das Abschaffen von Fakten und Wissen, Entlassen von Fachkräften, Zerlegen von Institutionen, Streichen von Geld für Forschung zur Folge hat. Zudem beobachte ich unabhängig von Trump eine Verlagerung von Prioritäten, hin zu Geopolitik und Kriegen, weg von Klimafragen. 

Das Pendel schwingt zurück?

Wir wissen es nicht. Es kann sein, dass diese Entwicklung ein temporärer Dämpfer ist und Klimafragen wieder kommen, weil das Problem ja nicht weg ist. Die Mehrheit der Bevölkerung will eigentlich mehr Klimaschutz, aber die meisten glauben, die anderen wollen nicht. Das wäre die hoffnungsvolle, optimistische Interpretation. Die weniger optimistische ist, dass wir uns davon verabschieden, dass wir kollektiv gewisse grosse Fragen lösen wollen und können. Nicht nur im Bereich von Klima, sondern auch im Bereich von Demokratie und Gleichstellung und Nord-Süd-Gefälle.

Reto Knutti
Die weniger optimistische Interpretation ist, dass wir uns davon verabschieden, kollektiv gewisse grosse Fragen lösen zu wollen und zu können.

Wagst du eine Prognose?

Nein. Es ist auch nicht Aufgabe der Wissenschaft, das vorzubestimmen. Aber was wir können und was ich weiterhin tun werde, ist, aufzuzeigen, dass faktenbasierte Diskussionen entscheidend sind. Auf deren Grundlage profitieren wir am Ende alle von Bildung und Forschung und Innovation. China hat das verstanden.

Pardon?

Ja, China hat das verstanden. China kontrolliert 57 von 64 Schlüsseltechnologien auf dieser Welt: Medizin, Halbleiter, Photovoltaik, Batterien, fast alles. Und warum tun sie das? Nicht, weil China die Welt retten will, sondern weil sie verstanden haben, dass wirtschaftlicher Erfolg in Zukunft zu einem grossen Teil von Technologien abhängt. Und dass diejenigen, die diese Transformation mitgestalten, besser dastehen werden als diejenigen, die den Kopf in den Sand stecken. 

Pessimist bist du nicht.

Ich bin Realist. Es braucht viel Energie, Optimist zu sein, aber wir müssen es versuchen.

Das war’s. Wie war’s?

Schwierig. Ich finde die Gender-Themen super spannend und extrem wichtig. Aber als Naturwissenschaftler habe ich zu allem einen sehr analytischen Zugang. Ich habe Physik studiert, weil ich das System verstehen, nicht weil ich die Welt retten wollte. Das heisst nicht, dass ich emotionslos bin. Ich bin auch Familienvater. Aber wir sind heute Vormittag ausserhalb meiner Komfortzone. Das gilt manchmal auch in meiner Rolle als Vermittler in der Öffentlichkeit.

Dabei ist sie so wichtig.

Deshalb mache ich es ja. Aber manchmal kostet es viel Energie. Das Schlimmste, was du mir antun könntest, wäre Improvisationstheater. Um Gottes Willen. Ich kann mich exponieren in meinem Fachgebiet, weil ich weiss, dass ich das verstehe und Argumente habe, aber improvisieren … (Der Satz bleibt unvollendet, das Gesicht spricht Bände.)