«Bist du eigentlich glücklich?», fragte mich kürzlich meine Partnerin. Es war ein paar Tage nach Weihnachten, ich musste immer wieder weinen und fühlte mich überfordert und traurig. Gerade in Zeiten, in denen ich viel Care-Arbeit leiste, wie an den Festtagen oder auch in Krankheitsphasen meiner Tochter – sie war diesen Winter praktisch jede Woche mehrere Tage krank –, erscheint mir die Frage nach Glück oft ziemlich abwegig. «Ich habe nicht gerade die glücklichste Phase», antwortete ich. Am nächsten Tag war ich zwar schon wesentlich stabiler, die Frage jedoch ging mir weiter nach. Bin ich glücklich? Was bedeutet Glück für mich? Kann ich zeitweise erschöpft und dennoch glücklich mit meinem Leben sein?

Eine SRG-Studie hat ergeben, dass sich die meisten Menschen in der Schweiz sehr häufig glücklich, ruhig, erfüllt und geliebt fühlen. Auch weltweit steht die Schweiz gut da: Sie landete im Jahr 2023 beim «World Happiness Report», herausgegeben von der UNO, auf Platz acht. Das grosse Glück wird jedoch durch andere Studien getrübt. Diese ergeben nämlich, dass sich über ein Drittel der Schweizer:innen gestresst und krank fühlt und damit gefährdet sein könnte, ein Burn-out zu entwickeln.

Marah Rikli
Im Gegensatz zu vielen Menschen in der Schweiz habe ich nicht das Gefühl, dankbar und deshalb immerwährend glücklich sein zu müssen – zu viele Hindernisse und Diskriminierungen begegnen mir und meiner Tochter im Alltag.

Wie geht das zusammen? Die Ergebnisse solcher Umfragen seien mit Vorsicht zu geniessen, sagt dazu der Glücksforscher Mathias Binswanger im Interview mit Watson. Es käme bei solchen Umfragen immer sehr auf die Fragen an. Bei der Frage: «Leiden Sie unter Stress und sind übermüdet?» komme oft die Antwort «ja», da Stress per se negativ empfunden werde. Wenn man dann aber frage: «Sind Sie glücklich?», sagten die Menschen ebenfalls oft «ja». Das habe unter anderem mit der Schweizer Kultur zu tun: Schweizer:innen würden zu Dankbarkeit erzogen und mit dem Narrativ, es ginge uns doch gut, daher müssten wir glücklich sein.

Im Gegensatz zu vielen Menschen in der Schweiz habe ich nicht das Gefühl, dankbar und deshalb immerwährend glücklich sein zu müssen – zu viele Hindernisse und Diskriminierungen begegnen mir und meiner Tochter im Alltag. Zudem erscheint es mir genauso wichtig, zwischendurch traurig sein zu dürfen, erschöpft oder auch wütend. Je weniger ich negative Gefühle zulasse, desto eher werde ich nämlich zum Dampfkochtopf, der irgendwann explodiert und erst recht unglücklich wird.

Nichtsdestotrotz erlebe ich viele glückliche Momente. Meistens durch Begegnungen, die mir Hoffnung geben auf eine tolerantere und diskriminierungsfreiere Gesellschaft. Zum Beispiel kaufte ich kürzlich einen neuen Laptop in einem Technik-Geschäft. Ich betrat das Geschäft mit meiner Tochter, sie liebt alles, was Tasten hat und machte sich schnurstracks an die Ausstellungsobjekte. Als sie merkte, dass diese nicht wirklich funktionieren, setzte sie sich auf den Boden und begann ihre Frustration mit Weinen abzulassen. Meine Tochter ist neun Jahre alt und verhielt sich aufgrund ihrer Behinderung in diesem Moment wie ein zweijähriges Kind. Oft machen wir in solchen Situationen die Erfahrung, dass die Menschen irritiert sind und uns zurechtweisen. Der junge Mensch, der in diesem Laden arbeitete, kannte sich jedoch mit Neurodivergenz aus: «Ist Ihr Kind im Autismus-Spektrum? Lassen Sie es nur», sagte er. Ich nickte und musste durchatmen, damit ich nicht in Tränen der Rührung ausbrach. Das war aber noch nicht alles. Als er mir nämlich das WLAN des Computers erklärte, sagte er zu mir: «Ihre Partnerin, Ihr Partner oder auch Ihre Mitbewohner:innen können, sofern sie im gleichen Haushalt leben, das gleiche Netz benutzen ...» Den Rest hörte ich nicht mehr, weil ich in diesem Moment so viel inneres Glück empfand. Dieser Mensch in einem x-beliebigen Laden kannte sich nicht nur mit Behinderungen aus, er genderte auch und bezog ohne Anstrengung jegliche Familienformen mit ein. Er stülpte mir und meiner Tochter keine Stereotypen über, wie es sonst sehr viele machen.

Marah Rikli
Je weniger ich negative Gefühle zulasse, desto eher werde ich zum Dampfkochtopf, der irgendwann explodiert und erst recht unglücklich wird.

Es gibt aber auch Banaleres, was mich Glückshormone ausschütten lässt: «Mein Duschvorhang zum Beispiel», erzählte ich an Silvester, als wir über unsere Highlights des Jahres sprachen. Alle lachten. Für mich jedoch ist mein Duschvorhang, so albern das auch klingen mag, pures Glück. Ich habe ihn bei einem Zürcher Label erworben, und er ist das erste Design-Stück, das ich mir in meinen 42 Lebensjahren geleistet habe. Jedes Mal, wenn ich mein Badezimmer betrete, bin ich einen kurzen Moment glücklich. Glück empfand ich auch, als kürzlich mein Sohn für mich Abendessen kochte, weil ich krank war, oder als meine Tochter und ich durch Marseille fuhren mit einem Touristen-Zügli – sie ist der einzige Mensch, mit dem ich glücklich in einem Touristen-Zügli sein kann, einfach weil sie glücklich ist. Ebenfalls tiefe Glücksgefühle empfand ich, als meine Partnerin mit mir im Schneegestöber an die Behindertenkundgebung kam und damit ihre Solidarität zeigte oder als ich mit einer Handvoll wunderbarer Menschen auf einer Alp ins neue Jahr tanzte.

Marah Rikli
Die Frage hätte auch lauten können: «Bist du unglücklich?», dann hätte ich mich wohl auf die Momente des Unglücklichseins besonnen, was mich sicher nicht glücklicher gemacht hätte.

Die Frage «Bist du glücklich?», gestellt während einer unglücklichen Episode, führte dazu, dass ich mir mehrere Wochen dazu Gedanken machte und dass ich nun eine endlose Liste über meine glücklichen Momente schreiben könnte. Die Frage hätte auch lauten können: «Bist du unglücklich?», dann hätte ich mich wohl auf die Momente des Unglücklichseins besonnen, was mich sicher nicht glücklicher gemacht hätte. Fragen Sie doch dieses Jahr ein paarmal nach dem Glück ihres Gegenübers, ohne von dieser Person Dankbarkeit dafür zu verlangen, wie gut wir es doch haben in diesem Land. Ich bin sicher, Sie werden nach diesem Gespräch zusammen ein paar Freudentränen weinen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen mit meiner letzten Kolumne viel Diversität, Liebe und Hoffnung für das Jahr 2024. Ich danke dem ganzen Team von ellexx, dass sie meinen Themen hier eine Plattform gegeben haben.

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