Stellen Sie sich vor, Sie sind knapp volljährig und haben eine Blinddarmoperation. Als Sie aufwachen, erzählen Ihnen Ihre Eltern, dass alles gut sei. Ein paar Jahre später haben Sie einen Freund und Kinderwunsch und erfahren, dass Sie keine Kinder bekommen können. Bei der Blinddarmoperation wurde ohne ihr Wissen eine Sterilisation vorgenommen. Die Sterilisation war ein Wunsch Ihrer Eltern – wegen Ihrer kognitiven Behinderung.

Geschichten über solche Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderungen sind in der Schweiz keine Einzelfälle; Sterilisationen werden auch heute noch durchgeführt. Betroffen sind vor allem Frauen mit kognitiven Behinderungen. Denn das Sterilisationsgesetz in der Schweiz hält fest: «In gewissen Fällen ist die Sterilisation ohne Zustimmung von dauerhaft urteilsunfähigen Personen legal.» Urteilsunfähige Personen, das sind Menschen, die für immer eine psychische oder geistige Behinderung haben.

Als Mutter eines kognitiv behinderten Mädchens in der Vorpubertät machen mich solche Geschichten sehr betroffen. Einerseits, weil es ein brutaler Eingriff in die Integrität von Menschen mit Behinderungen ist. Andererseits, weil ich um die Not und Gedanken weiss, die Eltern zu solchen Handlungen bewegen.

Es darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen gewaltvolle medizinische Eingriffe erleben und ihnen Rechte abgesprochen werden.

Nun tut sich aber endlich etwas: Es gibt eine Petition mit dem Titel «Stoppt Zwangssterilisationen». Ende letzten Jahres wurde dazu eine Motion beim Bundesrat eingereicht, die eine Umsetzung der Petition verlangt, denn der Eingriff verstösst gegen die Menschenrechte und die Behindertenrechtskonvention (BRK) – die UNO hat die Schweiz deswegen schon länger gerügt. Würde die Motion umgesetzt, müsste die Sterilisation ohne Zustimmung endlich und ohne Ausnahme verboten werden. Das aktuell gültige Sterilisationsgesetz ist behindertenfeindlich und entspricht in keiner Weise den ethischen Werten der Schweiz. Es darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen gewaltvolle medizinische Eingriffe erleben und ihnen Rechte abgesprochen werden.

Das Verbot der Zwangssterilisation ist ein erster wichtiger und richtiger Schritt und längst fällig. Es braucht aber auch eine Politik, die Mütter von Kindern mit Behinderungen nicht alleine lässt.

Damit Eltern behinderter Kinder der Petition zustimmen, braucht es aber weitere Schritte. Stellen Sie sich dazu die andere Perspektive vor, diejenige der Mutter (ja, meistens sind es die Mütter, die die Kinder mit Behinderungen betreuen): Sie haben das Kind 17 Jahre ohne viel Hilfe aufgezogen, Hilfeleistungen sind in der Schweiz rar. Sie sind erschöpft, doch Erholung ist keine in Sicht. Mit der Volljährigkeit des Kindes übernehmen Sie nämlich die Beistandschaft. Vielleicht zieht Ihre Tochter unter der Woche in ein Heim, aber in den Ferien, an den Feiertagen und am Wochenende lebt sie bei Ihnen. Neu hat sie einen Freund und einen Kinderwunsch, eigentlich ein Grund zur Freude. Doch unweigerlich spüren Sie als Mutter Widerstand und fragen sich zunehmend: «Wer wird sich um das Kind kümmern, wenn eines entsteht?» Sie wissen nach all den Jahren der Kämpfe mit der Invaliditätsversicherung und den Behörden genau: Die Schweiz baut auf die Mütter und Grossmütter. Die Arbeit wird bei Ihnen liegen.

Das Verbot der Zwangssterilisation ist ein erster wichtiger und richtiger Schritt und längst fällig. Es braucht aber auch eine Politik, die Mütter von Kindern mit Behinderungen nicht alleinlässt. Eine Politik, die unsere Herausforderungen und Probleme nicht als Privatsache abstempelt, so wie es immer noch viel zu oft der Fall ist. Und es braucht den Willen von Betroffenen, Fachpersonen, Institutionen und Angehörigen, den Behindertenbereich umzukrempeln.

Wir müssen ein Menschenbild verinnerlichen, das Menschen mit Behinderungen als genauso wertvoll und reproduktionswürdig ansieht wie Menschen ohne Behinderungen.

Ich finde, wir müssen – so wie es auch diese Petition will – endlich wegkommen vom Denken, dass kognitiv behinderte Menschen hilflose Wesen und nicht fähig sind, Entscheidungen zu treffen oder Liebe und Fürsorge zu geben. Wir müssen ein Menschenbild verinnerlichen, das Menschen mit Behinderungen als genauso wertvoll und reproduktionswürdig ansieht wie Menschen ohne Behinderungen. Ausserdem braucht es Wohnformen, die anders sind als die meisten Heime heute. Wohnungen und Häuser, in denen Betroffene mit ihren Partner:innen und Kindern selbstbestimmt und abgelöst vom Elternhaus leben können, mit derjenigen Unterstützung, die sie brauchen – zum Beispiel mit Assistenz und Familienbegleitung. Was übrigens längst möglich wäre, Schweden liefert dazu Beispiele.

In der Schweiz ist ein selbstbestimmtes Leben für viele Menschen mit Behinderungen keine Selbstverständlichkeit, was verschiedene Behindertenorganisationen stark kritisieren. Ein zentrales Problem ist, dass rechtlich die freie Wahl des Wohnorts eingeschränkt ist und wenig finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Dabei wäre diese Wahlfreiheit ebenfalls eine Verpflichtung der UNO-Behindertenkonvention. Stattdessen leben gut 44'000 Personen mit Behinderungen in Heimen und am Wochenende und in den Ferien sehr oft bei ihren alternden Müttern.

Die Petition «Stoppt Zwangssterilisationen» zeigt, wie wichtig eine Anpassung von veralteten Gesetzen ist, damit ein Umdenken unumgänglich wird. Ohne dieses Verbot werden Angehörige weiterhin eine Zwangssterilisation andenken – oft aus Erschöpfung und Hilflosigkeit oder auf Druck der Heime –, anstatt von der Politik und den Institutionen die Hilfe einzufordern, die für ihr behindertes Kind eine Schwangerschaft, Geburt und das Aufziehen eines Kindes möglich macht.

Ob meine Tochter je einen Kinderwunsch haben wird, werde ich wohl noch früh genug erfahren. Doch ich werde ihr dazu den gleichen Rat geben, wie ich auch meinem nicht behinderten, mittlerweile volljährigen Sohn gebe: Überlege gut, zu welchem Zeitpunkt und mit wem. Den Rest schaffen wir.

https://www.ellexx.com/de/themen/gesellschaft/vom-schweizer-mutterideal-erschopfung-und-laut-werden-fur-andere/

https://www.ellexx.com/de/themen/gesellschaft/kinder-mit-behinderungen-mutter-marah-rikli-news/