Zuerst die Fakten. Unzählige Studien zeigen: Liest jemand einen Text, der nur männliche Formen enthält, weckt dies Assoziationen vor allem mit Männern. Wer will, dass die Lesenden auch an nicht-Männer denken, kommt um die geschlechtergerechte Sprache nicht herum. (Einige solche Studien haben wir hier im Artikel verlinkt.)

Trotz der eindeutigen Sachlage gehen viele Menschen gegen die «Gendersprache» auf die Barrikaden, wie beispielsweise die SVP Schmerikon, die in ihrer Gemeinde ein Verbot des Gendersterns durchgesetzt hat. Warum tun sie das? Wollen sie, dass in der Sprache nur Männer repräsentiert sind?

Eine spontane Umfrage der Autorin auf Twitter nach persönlichen Gründen für oder gegen das Gendern erhielt in kurzer Zeit 175 Antworten. Sowohl die Pro- als auch die Kontra-Argumente ähnelten sich jeweils stark.

Gendern kann heissen, dass in Texten Paarformen oder geschlechtsneutrale Umschreibungen vorkommen. Es kann aber auch heissen, dass die Sprache die Binarität Frau-Mann überwindet und non-binäre oder fluide Geschlechtsidentitäten mitrepräsentiert.

Die Befürworter:innen nennen vor allem «soziale» Argumente: Sie verwenden die geschlechtergerechte Sprache aus Respekt, weil sie alle Menschen einschliessen wollen, weil sie sich präzise und sachgerecht ausdrücken wollen, weil sie selber nicht «mitgemeint» werden wollen. Und weil sie Wandel wollen.

Die Gegner:innen pochen dagegen auf die Korrektheit der Sprache, die Tradition, die bessere Lesbarkeit. Sie verweisen zudem gerne auf theoretische Definitionen des generischen Maskulinums als Form, die vom Geschlecht abstrahiere und somit Frauen mitmeine, oder auf Studien zur Sprachgeschichte, die das ehrwürdige Alter des generischen Maskulinums belegen.

Die Umfrage machte aber noch etwas deutlich: Unter «Gendern» verstehen nicht alle dasselbe. Klären wir also zunächst diese Frage.

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«Was Gendern bringt – und was nicht»: Das Online-Wissenschaftsmagazin quarks.de erklärt in einem ausführlichen Übersichtsartikel, welche Effekte das generische Maskulinum bzw. die geschlechtergerechte Sprache haben. Mit vielen Links auf Studien.

Was ist eigentlich «Gendern»?

Wikipedia sagt dazu: «Im besonderen Sinne steht das Gendern im Deutschen für einen geschlechterbewussten Sprachgebrauch, der eine Gleichbehandlung der Geschlechter in der schriftlichen und gesprochenen Sprache zum Ausdruck bringen will.» Und ergänzt, dass das Gendern in «zweigeschlechtlichen» und «mehrgeschlechtlichen» Formen vorkomme.

Gendern kann also einerseits heissen, dass in Texten Paarformen oder geschlechtsneutrale Umschreibungen vorkommen: Studentinnen und Studenten, Studierende. Es kann aber auch heissen, dass die Sprache die Binarität Frau-Mann überwindet und non-binäre oder fluide Geschlechtsidentitäten mitrepräsentiert: Student*innen, Student:innen.

Das generische Maskulinum stirbt aus

Verfechter:innen des generischen Maskulinums, die keine dieser Varianten anwenden, sind mittlerweile selten anzutreffen. Sowohl in der Twitter-Timeline der Autorin als auch in einer kürzlich durchgeführten repräsentativen Umfrage von Tamedia und 20 Minuten bilden sie eine Minderheit: Nur 29% der Männer und 17% der Frauen gaben dort an, beim Sprechen und Schreiben das generische Maskulinum vorzuziehen. Je 48% verwenden gerne Doppelformen, Umformulierungen oder wechseln ab. Von Frauen wie Männern wenig verwendet werden Genderstern, Doppelpunkt oder Binnen-I.

Rund die Hälfte der Befragten verwendet also geschlechtergerechte Sprache – aber nur im binären System. Auch die SVP Schmerikon wünscht sich nicht die Wiederkehr des generischen Maskulinums, sondern verweist auf das Merkblatt des Kantons St. Gallen zur gendergerechten Sprache, das Paarformen, Umschreibungen etc. empfiehlt.

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Die linguistische Forschung ist international. Die meisten Studien zum Gendern sind auf Englisch verfasst und nur gegen Bezahlung auf den Portalen von Wissenschaftsverlagen abrufbar. Hier zwei Open-Access-Artikel auf Deutsch:
Schon 2001 untersuchten Dagmar Stahlberg und Sabine Sczesny «Die Effekte des generischen Maskulinums und alternativer Sprachformen auf den gedanklichen Einbezug von Frauen».
Zwanzig Jahre später fragt Caroline Müller-Spitzer «Geschlechtergerechte Sprache: Zumutung, Herausforderung, Notwendigkeit?» und schaut dabei auch weit in die Geschichte zurück.

Es geht nicht um Frau versus Mann

Der Widerstand gegen das Gendern erweist sich also vor allem als Widerstand gegen den Genderstern oder den Doppelpunkt. Begründet wird er meist mit sprachlichen Argumenten: zu neu, von der Bundeskanzlei nicht empfohlen, schwer auszusprechen, nicht korrekt. Diese Argumente kaschieren aber nur schlecht, worum es eigentlich geht: nämlich darum, den Geschlechtsidentitäten ausserhalb der Binarität Mann-Frau die Anerkennung zu verweigern.

So schreibt beispielsweise die SVP Schmerikon, sie setze sich «gegen die Verbreitung der Genderideologie und für den Schutz einer intakten und korrekten Sprache» ein. Mit dem diffusen Begriff «Genderideologie» meinen Konservative und politisch Rechtsstehende gemeinhin die Anerkennung von trans und non-binären Identitäten. Die SVP Schmerikon und Gleichgesinnte kämpfen also eigentlich gegen eine gesellschaftliche Entwicklung – mit Mitteln und auf dem Buckel der Sprache. Gegen die sogenannte politische Korrektheit führen sie die sprachliche Korrektheit ins Feld.

Befürworter:innen von Genderstern & Co. hingegen reflektieren diese Entwicklung oder treiben sie sogar voran, indem sie ihren Respekt für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten auch in der Sprache sichtbar machen.

Wer den Genderstern bekämpft, bekämpft die Anerkennung von Geschlechtsidentitäten jenseits von Frau und Mann und verweigert mit viel Tamtam einer Minderheit den elementarsten Respekt.

«Korrekt» gibt es nicht

Das Argument der sprachlichen Korrektheit lässt sich einfach zerzausen durch die ebenso altbekannte wie banale Tatsache, dass sich die Sprache ständig entwickelt. Wer wie die Autorin die Rechtschreibreformen seit 1996 mitgemacht hat und den Duden täglich konsultiert, weiss, dass heute so manches erlaubt ist, was gestern noch falsch war, und umgekehrt. Noch mehr gilt das, wenn wir weiter zurückschauen: Die Grossmutter der Autorin schrieb «The» statt Tee, im 19. Jahrhundert gehörte das heute als Deppenapostroph verunglimpfte Genitiv-Apostroph zum guten Ton, im 17. Jahrhundert wurden die Familiennamen von Frauen gegendert – Anna Meier hiess Anna Meierin.

Die Sprache ist also ständig in Bewegung. «Early adopters» verwenden neue Ausdrücke und Schreibweisen und sprechen damit eine Zielgruppe an, die sich selber als modern oder cool versteht. Die Wochenzeitung genderte seit 1983 mittels Binnen-I, elleXX verwendet sehr viele englische Ausdrücke ohne Anführungszeichen, und seit jeher treibt die Jugendsprache innovative Blüten.

Ebenfalls seit jeher prangern konservative Kräfte solche Praktiken als Verhunzung der Sprache an. Zehn Jahre später verwenden dann die selben Konservativen die beanstandeten Ausdrücke, ohne mit der Wimper zu zucken – und wettern über wieder neue Schreibweisen. Die plötzliche Begeisterung der SVP Schmerikon für Doppelformen illustriert diesen Mechanismus perfekt.

Normative Regelwerke wie der Duden gehören wesensgemäss ebenfalls zu den «late adopters» – eine Neuerung wird erst dann als korrekt in das Regelwerk aufgenommen, wenn sie sich im Sprachgebrauch eingebürgert hat.

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Auch in der Schweiz wird über die Effekte des Genderns geforscht. Hier ein Artikel von 2016 von Lisa Kristina Horvath und Sabine Sczesny (Universität Bern), auf Englisch: «Does gender-fair language pay off? The social perception of professions from a cross-linguistic perspective».

Der Zeit voraus

Wer sich argumentativ starr auf die normative Korrektheit beruft, offenbart sich somit als «late adopter», der sich aktiv den aktuellen Entwicklungen widersetzt. Heisst im Falle des Gendersterns: Wer ihn bekämpft, bekämpft die Anerkennung von Geschlechtsidentitäten jenseits von Frau und Mann und verweigert mit viel Tamtam einer Minderheit den elementarsten Respekt.

Zum Glück können wir mit Blick auf die Geschichte mit Sicherheit voraussagen, dass die Gender-Gegner:innen ihren aufreibenden Kampf verlieren werden und eine inklusive Sprache in absehbarer Zeit nicht nur Realität, sondern auch «korrekt» sein wird – mit Genderstern oder anders.

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