Weibliche Wut gehört sich nicht – das wusste ich schon als kleines Kind. «Du bist viel hübscher, wenn du lachst», «sei nicht so hässig» oder «de Gschider git nah, de Esel blibt stah» sind Sätze, die ich als Mädchen viel häufiger zu hören bekam als mein kleiner Bruder.

Manchmal scheint es mir, dass auch das Recht auf Wut ein Privileg ist, das den Männern vorbehalten bleibt.

Frauen haben unendlich viele Gründe, wütend zu sein. Seit Tausenden von Jahren werden uns die elementarsten Menschenrechte abgesprochen – vom Recht auf politische Teilnahme bis hin zum Recht auf körperliche Unversehrtheit. Frauen sind Menschen zweiter Klasse, und zwar fast überall auf der Welt: In Afghanistan dürfen Mädchen nicht zur Schule gehen, in El Salvador kommen Frauen wegen Mordes  ins Gefängnis, wenn sie eine Fehlgeburt erleiden, und in den USA wird uns das Recht auf Abtreibung verwehrt.

Dennoch muss ich mich jeden Tag für meine Wut rechtfertigen. Manchmal scheint es mir, dass auch das Recht auf Wut ein Privileg ist, das den Männern vorbehalten bleibt.

Eigentlich seltsam, denn: Wir Frauen scheinen sonst ja sämtliche Emotionen für uns gepachtet zu haben. Gefühle wie Trauer, Angst oder Neid werden uns in ungleich höherem Ausmass zugestanden als Männern – nicht aber die Wut.

Mit elf Jahren fing ich zu hungern an, weil ich meine neuen Brüste wieder loswerden wollte. Zu oft pfiffen mir die Bauarbeiter auf dem Weg zur Schule hinterher, zu häufig spürte ich die Blicke erwachsener Männer auf meinem eben erblühten Frauenkörper, zu viele Exhibitionisten zeigten mir im Park ihren widerlichen, erigierten Schwanz.

Studien zeigen, dass wir genauso häufig wütend sind wie das andere Geschlecht. Nur wenden wir diese Wut nach innen, gegen uns selbst, anstatt sie da zu deponieren, wo sie hingehört: in eine Welt, die uns noch immer nicht die gleichen Chancen gibt. Mädchen ritzen sich häufiger als Buben, Essstörungen sind bei weiblichen Teenagern weiter verbreitet als bei männlichen, und auch die Diagnose «Depression» wird heranwachsende Mädchen weitaus häufiger gestellt.

Für mich sprechen diese Fakten eine klare Sprache: Sie sind eine Konsequenz von unterdrückter, internalisierter Wut – eine Erfahrung, die auch ich gemacht habe.

Mit elf Jahren fing ich zu hungern an, weil ich meine neuen Brüste wieder loswerden wollte. Zu oft pfiffen mir die Bauarbeiter auf dem Weg zur Schule hinterher, zu häufig spürte ich die Blicke erwachsener Männer auf meinem eben erblühten Frauenkörper, zu viele Exhibitionisten zeigten mir im Park ihren widerlichen, erigierten Schwanz. Meine kindliche Seele konnte diese Erlebnisse nicht verarbeiten, ich wusste nicht, dass Wut auf diese Männer die richtige Reaktion gewesen wäre, ich schluckte den Ekel. Ich richtete den Ärger gegen mich selbst.

Hätte ich früher den patriarchalen Plan durchschaut, der hinter der Unterdrückung weiblicher Wut steckt: Ich wäre heute ein stärkerer Mensch!

Hätte ich damals doch schon gewusst, was ich heute weiss! Könnte ich doch die Zeit zurück haben, die ich mit der wütenden Zerstörung der Rosanna Grüter verbrachte und später mit ihrem Wiederaufbau! Hätte ich früher den patriarchalen Plan durchschaut, der hinter der Unterdrückung weiblicher Wut steckt: Ich wäre heute ein stärkerer Mensch!

Wut war schon immer – und ist es immer noch! – die Haupttriebfeder gesellschaftlichen Wandels, und sie wird uns Frauen systematisch ausgeredet. Solange wir als hysterisch und irrational gebrandmarkt werden, wenn wir wütend sind, solange wir unseren Ärger gegen uns selbst richten statt nach aussen, machen wir Frauen nämlich schlicht und ergreifend keine Revolution.

Es gibt keine andere so grosse Minorität, die schon so lange unterdrückt wird und die sich immer noch in so gewaltlosem Widerstand übt wie wir Frauen. Wir reden noch, wenn die anderen längst schiessen, wir sind seit Tausenden von Jahren der Inbegriff von Diplomatie.

Wenn wir Frauen – getrimmt auf Konsens und Gefälligkeit – unsere Wut doch endlich als das zu nehmen wüssten, was sie ist: Eine Welle, die uns zusammen vorwärts spült, besseren Zeiten entgegen … Dann könnten wir wirklich die Welt verändern. Wir sind längst nicht wütend genug.

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