Das Café Yucca, ein Angebot von Solidara Zürich, ist ein täglich geöffneter Raum für Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden. Das Team, zu dem auch Judith Hunn seit 13 Jahren zählt, bietet offene Ohren und praktische Hilfe in Form von Essen, Wärme und kostenloser Sozialberatung. Im Money Talk erzählt Judith, wer die Menschen sind, die ins Café kommen, welche Rolle Geld in ihren Lebensgeschichten spielt, weshalb viele soziale Einrichtungen in der Weihnachtszeit – aber meistens eben nur dann – mit Aufmerksamkeit überhäuft werden und wie sie als Nonne zu Geld steht.

Persönlichkeit
KnauserigGrosszügig
HaushaltsbuchBauchgefühl
CashDigital Payment
FrankenBitcoin
Hintergrund
Alter:57
Ort:Zürich und Einsiedeln
Beruf:Sozialbegleiterin
Einkommen:Weiss ich nicht auswendig
Schulden:Keine
Grösster Ausgabeposten:Monatlich ca. 2000 CHF inklusive Miete und Krankenkasse
Vermögen:Im Topf des Klosters

Es gibt ja viele Vorurteile gegenüber Menschen, die auf der Strasse leben. Deshalb ein kurzer Realitätscheck: Welche Gäst:innen trifft man im Café Yucca?

Als öffentliches Café sind wir sehr breit aufgestellt. Zu uns kann eigentlich jede:r kommen. Es kommen aber vor allem Menschen, die wenig Geld haben und deshalb von anderen sozialen Angeboten ausgeschlossen sind. Häufig sind sie auch einsam. Es können Wanderarbeiter aus Rumänien sein, Sans-Papiers, IV-Bezüger:innen – im Alter zwischen 20 und 90 Jahren ist alles dabei. Täglich kommen zwischen 70 und 100 Menschen.

Welche Geschichten bringen sie mit?

Ganz unterschiedliche. Ein Aspekt ist, dass es seit zehn Jahren ein neues Psychiatrie-Gesetz gibt. Gemäss diesem Gesetz dürfen Menschen nicht mehr ewig verwahrt werden – was grundsätzlich positiv ist. Doch dadurch leben mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen auf der Strasse, die nicht für sich selbst sorgen können und um die sich niemand kümmert. Und dann haben wir Menschen bei uns, die am Drogenprogramm teilnehmen oder Alkoholprobleme haben. Viele sind sehr sensible, künstlerisch begabte Menschen. Sie wollten die Kunstschule machen, aber bestanden die Aufnahmeprüfung nicht oder flogen raus und rutschten in eine Sucht ab, weil sie sonst keinen Halt hatten.

Welche Rolle spielt Geld in diesen Lebensgeschichten?

Geld ist ein zentrales Thema und meist der Auslöser für die Obdachlosigkeit. Weil manche Menschen etwa die Miete nicht mehr bezahlen können. Ins Café kommen die meisten Gäste zuerst, weil sie Geld brauchen. Wenn die Gäste mehrmals und länger zu uns kommen, stellt sich oft heraus, dass fehlendes Geld ein Symptom ist, hinter dem schwerwiegende Probleme stecken.

Judith Hunn
Wenn die Gäste mehrmals und länger zu uns kommen, stellt sich oft heraus, dass fehlendes Geld ein Symptom ist, hinter dem schwerwiegende Probleme stecken.

Welches Verhältnis haben eure Gäst:innen zu Geld?

Es gibt zwei Gruppen. Die eine bezieht eine IV-Rente oder ein Taschengeld, weil sie im Heim lebt. Eine IV-Rente liegt bei knapp 2000 Franken, wenn überhaupt. Beim Taschengeld sind es maximal 10 Franken am Tag – das geht bei den meisten Gästen für Zigaretten drauf. Diese Gruppe Menschen kommt zu uns, weil das Essen billig ist und weil sie nicht am kulturellen Leben teilnehmen kann. Die weitaus grössere Gruppe ist aber diejenige, die gar kein Geld hat und vom Betteln lebt.

Wie überlebt man in der Schweiz ganz ohne Geld?

Es gibt wirklich Gäste bei uns, die nichts von Behörden wissen wollen und keine AHV- oder IV-Rente beziehen möchten. Das sind Lebenskünstler:innen, die irgendwo im Wald oder in einem Zelt leben. Ihre Freiheit ist ihnen wichtiger als Geld.

Und wie ist es für Menschen, die das nicht freiwillig wählen?

Herausfordernd und prekär. Ohne Geld kommst du zu nichts. Viele abgewiesene Asylsuchende oder Sans-Papiers arbeiten teilweise seit Jahren illegal und leben die ganze Zeit in Angst, dass sie auffliegen. Man darf aber die finanzielle Situation nicht isoliert betrachten. Ebenso problematisch ist, dass es in Zürich zwar viele günstige Essensangebote gibt, aber kaum soziale Unterkünfte. Das verschärft viele Probleme.

Inwiefern?

Einerseits ist das im Winter natürlich prekär, denn selbst der Hauptbahnhof ist geschlossen – Menschen erfrieren bei Minustemperaturen. Andererseits verunmöglicht eine fehlende Meldeadresse vieles: Man kann kein Bankkonto eröffnen, nicht einmal einen Twint-Account einrichten. In Zeiten, in denen Menschen bargeldlos leben und digital bezahlen, ist das ein grosses Problem. Ausserdem kann man nicht arbeiten, weil man dafür wiederum eine Meldeadresse und ein Bankkonto benötigt. Auch Sozialleistungen bekommt man ohne festen Wohnsitz nicht. Es ist ein Teufelskreis.

Könnt ihr den als niederschwellige Anlaufstelle durchbrechen?

Wir versuchen, Menschen in unseren Sozialberatungen wieder ins System einzugliedern. Das hilft am meisten. Aber uns allein gelingt das nicht. Es braucht dringend mehr Unterkunftsmöglichkeiten. Damit könnte man viele Menschen finanziell und psychisch stabilisieren.

Wie teilen sich eure Gäst:innen eigentlich nach Geschlecht auf?

Etwa 75 Prozent unserer Gäste sind Männer, und 25 Prozent sind Frauen. Das widerspiegelt auch die Realität auf der Strasse. Wir haben aber extra mit dem Sozialwerk Pfarrer Sieber und Netz 4 eine «Fraueziit» ins Leben gerufen. Einmal in der Woche steht ein Raum ausschliesslich Frauen zur Verfügung. Das war und ist ein grosses Bedürfnis.

Wie kommt dieses Verhältnis zustande?

Frauen haben vielfach Freundinnen, bei denen sie kurzzeitig unterkommen können. Bei Männern sind es häufig die Mütter, die für ihre Söhne sorgen. Wenn sie sterben, bricht oft der letzte Halt weg.

Jetzt befinden wir uns mitten in der Adventszeit. Sind Weihnachtsessen und Geschenke überhaupt ein Thema bei euren Gästen?

Ja, aber grundsätzlich bleibt kaum etwas übrig. Gestern kam eine Frau weinend zu uns. Ihre Arbeitgeberin, eine Putzfirma, sei Konkurs gegangen, und die Besitzerin habe sich ins Ausland abgesetzt. Sie wollte Geschenke kaufen für Weihnachten und hat jetzt keinen Rappen mehr.

Uff …

Allgemein sind viele Menschen bedrückter während der Adventszeit. Nicht wegen der fehlenden Geschenke, sondern weil sie an die Familie erinnert werden. Trotzdem hat die Adventszeit auch schöne Aspekte.

Welche?

Es gibt viele soziale Angebote mit Festen, das wird sehr geschätzt. Generell werden unsere Gäste im Dezember beschenkt und überhäuft mit Aufmerksamkeit. Im Januar folgt dann das grosse Loch.

Was meinst du damit?

Wir leben von Spenden. Wenn Menschen unsere Gäste wahrnehmen und unsere Arbeit finanziell unterstützen, können wir unseren Auftrag ausführen. Es reicht jedoch nicht, wenn das nur im Dezember geschieht. Ich würde mir wünschen, dass sich Menschen auch nach Weihnachten für unsere Gäste interessieren.

Wenn Menschen unsere Gäste wahrnehmen und unsere Arbeit finanziell unterstützen, können wir unseren Auftrag ausführen. Es reicht jedoch nicht, wenn das nur im Dezember geschieht.

Umgekehrt gedacht: Ist es überhaupt notwendig, Weihnachten zu einem Kommerzfest zu machen?

Das ist eine berechtigte Frage. Gestern hat eine Frau in der «Fraueziit» gesagt, sie möchte den ganzen Plastikschrott gar nicht. Ich persönlich finde es schön, sich gegenseitig etwas zu schenken. Es muss ja nicht immer etwas Gekauftes sein.

Wie kann man sich denn schöne Feiertage ohne Überkonsum machen?

Im Wald oder am See spazieren gehen oder sich einzeln mit Menschen zu einem Kaffee verabreden. Ich weiche der Masse jeweils ein bisschen aus.

Das ist ein guter Übergang zu dir als Person. Du bist studierte Umweltwissenschaftlerin und bist vor über 20 Jahren der Ordensgemeinschaft der Menzinger Schwester beigetreten. Welches Verhältnis hast du als Nonne zu Geld?

Als Franziskanerinnen haben wir den Auftrag, uns um arme Menschen zu kümmern und selbst mit dem Nötigsten auszukommen.

Was bedeutet das?

Ich bin angestellt beim Café Yucca, aber mein Lohn wird direkt an die Gemeinschaft überwiesen. Ich mache ein monatliches Budget und erhalte, was ich zum Leben benötige. Wenn ich hier in Zürich arbeite, habe ich ein Zimmer. Sonst lebe ich in Einsiedeln in der Gemeinschaft.

Wie viel verdienst du denn?

Ich weiss es nicht auswendig. Keinesfalls das grosse Geld, bei der Stadt wäre es deutlich mehr. Wir sind alle Idealist:innen hier im Café Yucca, aber dafür ein gutes und engagiertes Team. Das finde ich viel wertvoller.

Wie viel bekommt man in deiner Gemeinschaft zum Leben?

Das wird der individuellen Lebenssituation angepasst. Da ich in Zürich lebe, bekomme ich mehr als solche, die an anderen Orten leben. Miete und Krankenkasse bezahlt meine Gemeinschaft. Ich selbst habe keine Bankkarte. Das hat schon zu lustigen Situationen geführt, weil ich in Cafés nicht bar bezahlen konnte.

Stresst dich diese finanzielle Abhängigkeit?

Am Anfang war es eine Umstellung. Aber es gibt einem auch eine mehr Freiheit und entlastet. Ich muss mich nicht um Finanzielles kümmern und habe andere Schwerpunkte im Leben. In meiner Gemeinschaft teilen wir viele Dinge, beispielsweise ein Mobility-Abo. Dieser Austausch ist mir sehr wichtig. Ich möchte nicht alleine leben.

Und was ist, wenn du dir etwas Schönes kaufen, in die Ferien fahren oder für dein Alter vorsorgen möchtest?

Meine Gemeinschaft ist nicht stur mit Geld. Wenn ich einen neuen Laptop benötige, bekomme ich den. Wenn ich ein Buch kaufen oder ins Kino gehen möchte, ist das ebenfalls kein Problem. Wir haben auch unsere vier Wochen Ferien. Ausserdem bin ich gut in die Altersvorsorge eingebunden. Und sollte ich je aus dem Kloster austreten, erhalte ich mein eingezahltes Vermögen zurück.

Welche Bedeutung hat Geld für dich persönlich?

Keine grosse. Oder kann ich sagen, dass es ein notwendiges Übel ist? Wenn ich sehe, dass Menschen nichts haben, schätze ich, was ich habe. Denn ohne Geld geht es nicht. Einen gewissen Grundstock benötigst du im Leben.

Was bedeutet Luxus für dich?

Luxus ist für mich, wenn ich mir Zeit nehmen kann. Besonders in dieser Adventszeit habe ich mir bewusst Zeit genommen für Freundinnen, die ich vielleicht ein Jahr nicht mehr gesehen habe. Einfach mal zwei Stunden Kaffee trinken mit einer Freundin und sich austauschen. Das ist Luxus für mich.