Der Albtraum der Mullahs, der islamischen Rechts- und Religionsgelehrten, ist wahr geworden: Frauen verbrennen momentan in ganz Iran ihr Kopftuch, unter frenetischem Beifall von Frauen und Männern. Das Kopftuch ist das Symbol für die jahrelange Unterdrückung der Frau im Iran. Aber bei den aktuellen Protesten geht es nicht mehr nur um das Kopftuch. Die iranische Gesellschaft ist zu grossen Teilen enttäuscht von der Islamischen Republik Iran. Wütend. Diejenigen, die vor 43 Jahren auf die Strasse gingen, um den Schah zu stürzen und Iran zu befreien, entschuldigen sich heute bei ihren Kindern für das Erbe, das sie ihnen hinterlassen haben: die Islamische Republik. Eine Diktatur. Laut Umfragen sehen sich nur 30 Prozent der Iranerinnen und Iraner als Muslime.
Die Regierung hat die Drehschraube wieder angezogen
Iran ist nicht nur – wie es weitverbreitete Klischees in den Köpfen verankert haben – das Land der schwarzverhüllten Frauen, der Mullahs und der Kamele. Wer es bereist, lernt ein wunderschönes, vielfältiges und inspirierendes Land kennen. Das gilt gleichermassen für die beeindruckende Landschaft wie für die überaus gastfreundlichen Menschen. Iran könnte eines der wohlhabendsten Länder der Welt sein, mit florierendem Tourismus, erfolgreichen Start-ups und Freiheit. Doch der Machtapparat der Islamischen Republik hat etwas dagegen. Denn die vor einem Jahr an die Macht gekommene Regierung rund um Ebrahim Raissi, einen Richter der ultrakonservativen Justiz, bekannt für Tausende Todesurteile, hat die Schrauben wieder fester angezogen. Seit Monaten finden Verhaftungen statt, Menschen, die sich kritisch äussern, werden von zu Hause abgeholt. Die Prominenten unter ihnen, wie die international gefeierten Filmemacher Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof, bekommen zumindest Aufmerksamkeit. Andere versinken in der Anonymität in der Gefängniszelle.
Neben den zahlreichen Verhaftungen planen die Behörden auch den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware. Damit sollen Frauen erkannt werden, die beispielsweise auf öffentlichen Plätzen oder in der U-Bahn ihr Kopftuch nicht korrekt oder gar nicht tragen, weil es etwa heruntergerutscht ist. Sie sollen aufgespürt und bestraft werden. Das Strafmass wird ihnen per Post mitgeteilt. Die Behörden wissen, wo die «Täterin» wohnt. Das Signal des Regimes an die Bevölkerung lautet: Glaub nicht, dass eine Kleinigkeit, die irgendwo in einem Bus passiert, übersehen wird. Wir wissen, wer du bist. Wir werden dich finden, und dann wirst du die Konsequenzen tragen müssen.
Frauen werden seit 43 Jahren systematisch unterdrückt
1979 wurde das Heiratsalter für Mädchen auf 13 Jahre herabgesetzt. Männer können heute gemäss der Scharia – dem islamischen Gesetz, das seit 43 Jahren in der Islamischen Republik über allem steht – wieder bis zu vier Frauen heiraten und unzählige Ehen auf Zeit schliessen. Sie dürfen ihre Ehefrauen willkürlich verstossen, ohne deren Einverständnis einzuholen oder ein Gericht einzuschalten. Das war vor der Revolution anders. Auch beim Sorgerecht benachteiligt das islamische Recht die Frauen: Töchter dürfen nur bis zu ihrem siebten, Söhne bis zum zweiten Lebensjahr bei der Mutter bleiben. Eine Scheidung ist ohne das Einverständnis des Ehemannes nicht möglich.
Will eine Frau arbeiten, muss laut der Scharia der Ehemann oder der Vater zustimmen. Für Auslandsreisen müssen Frauen das Einverständnis ihres Ehemannes oder Vaters vorlegen. Sogar bereits dann, wenn sie einen Pass für diese Reisen beantragen wollen. Frauen dürfen nicht ins Fussballstadion, dürfen nicht singen, und tanzen dürfen sie schon gar nicht. Bereits kurz nach der Revolution wurde klar, dass sie nicht iranisch geprägt war, sondern sich immer mehr in eine islamische Richtung bewegte. Als die Frauen feststellten, dass sie sich ab sofort wieder verhüllen mussten, gingen sie auf die Strasse.
Jetzt reicht es den Frauen
Den Kampf um die Moral gibt es seit der Revolution von 1979, als islamistische Basijmilizen-Schläger des Systems «ya rusari ya tusari» – «bedeckt euch oder leidet» – riefen.
43 Jahre haben die Frauen gelitten, jetzt reicht es ihnen. Der Tod von Mahsa Amini hat die Wut der Frauen und Männer in Iran auf die Strasse getrieben. Mahsa, eine 22-jährige kurdische Frau, die in Teheran zu Gast war, wird Mitte September von der Sittenpolizei festgenommen und stirbt kurze Zeit später. Die Behörden behaupten, sie hätten damit nichts zu tun. Keiner glaubt ihnen. Mahsa Amini soll von der Sittenpolizei mit dem Kopf mehrmals gegen die Fensterscheiben des Autos geschlagen worden sein, in das sie gezerrt wurde.
Gasht-e Ershad – so lautet der iranische Name für die gefürchtete Sittenpolizei. Wenn man sie auf der Strasse zu Gesicht bekommt, lässt das alle erschaudern, die in den letzten vier Jahrzehnten mit ihnen zu tun hatten – und das sind viele. Die Sittenpolizei achtet darauf, dass Frauen im Iran islamisch genug gekleidet sind. Das bedeutet, dass Arme, Beine und der Kopf genügend bedeckt sein müssen. Wenn dies nicht der Fall ist, wird man angeschrien, beschimpft, gedemütigt, verhaftet, in Minibusse gezerrt und zum Verhör gebracht. Die Kleidervorschriften werden also, wenn nötig, auch mit Gewalt durchgesetzt.
Es geht um viel mehr als das Kopftuch
Einer der Slogans der Frauen auf den Strassen lautet: «Frau, Leben, Freiheit». Dass Frauen ihre Kopftücher einfach nicht mehr anziehen, sich der Sittenpolizei auf der Strasse lautstark widersetzen, ihre Haare aus Protest abschneiden und ihre Kopftücher verbrennen, bedeutet die maximale Form des zivilen Ungehorsams. Es ist der grösste Widerstand, den es gegen die jahrelange Unterdrückung je gegeben hat. Dafür riskieren diese Frauen alles. In Iran gehst du nicht protestieren, rollst dann dein Plakat wieder zusammen und gehst nach Hause. Wenn du in Iran auf die Strasse gehst, ist es sehr wahrscheinlich, dass du verhaftet und sogar gefoltert wirst – oder dass du einfach verschwindest.
Eine Teheranerin sagte in einem Interview am Telefon: «Wir werden nur gewinnen, wenn wir uns bewaffnen, sonst werden wir auch dieses Mal nur wieder Prügel einstecken.»
Das Kopftuch steht als Symbol für die Unterdrückung der Frau in der Islamischen Republik Iran. Wird es fallen, kann das der Anfang vom Ende sein. Es geht also um weit mehr als um das Kopftuch.
Natalie Amiri ist eine preisgekrönte iranisch-deutsche Journalistin und Fernsehmoderatorin. Sie berichtet seit Jahren über die komplexe Situation in Staaten wie Iran und Afghanistan. Seit 2014 moderiert sie den Weltspiegel aus München, ausserdem das BR-Europa-Magazin euroblick. Sie leitete von 2015 bis April 2020 das ARD-Studio in Teheran. Ihr Buch "Zwischen den Welten" über den Iran ist ein Bestseller.