Ich habe die ersten 34 Jahre meines Lebens im Iran gelebt und bin vor sechs Jahren mit meinem Mann in die Schweiz gezogen, nachdem er kurz nach unserer Hochzeit ein Jobangebot in Zürich bekommen hatte. Schon davor hatte ich einige Gelegenheiten, ins Ausland auszuwandern, aber ich entschied mich jedes Mal dagegen. Ich gehörte zu einer Gruppe von Iraner:innen, die davon überzeugt war, dass nicht alle aus dem Land auswandern sollten, sondern dass wir bleiben sollten, um das Land aufzubauen. Es war ein Kampf mit meiner Familie, die glaubte, dass ich nicht die Art von Frau sei, die im Iran leben und das strenge islamische Gesetz und seine Einschränkungen im täglichen Leben befolgen könnte. Meine Familie war zwar nicht religiös, aber sie hielt sich streng an die gesellschaftlichen Normen und wollte, dass ich entsprechend denke, rede, mich kleide und handle.

Schon bald merkten sie aber, dass ich nicht die Art von Mensch bin, der diese Normen strikt befolgen würde. Sie haben mich und meinen wilden Geist während meiner Kindheit und Jugend zwar irgendwie in den Griff bekommen; aber ich war kein typisches Mädchen. Ich dachte darüber nach, mir den Kopf zu rasieren, damit ich wie mein Bruder und meine Cousins Fahrrad fahren konnte. Ich trug Kleidung wie Jungs und bestand darauf, die Männer der Familie bei ihren Wanderungen und Abenteuern in der Natur zu begleiten. Damals wünschte ich mir, ein Junge zu sein.

Maryam Banihashemi
Ich gehörte zu einer Gruppe von Iraner:innen, die davon überzeugt war, dass nicht alle aus dem Land auswandern sollten, sondern dass wir bleiben sollten, um das Land aufzubauen.

Als meine Familie herausfand, dass ich im Alter von 17 Jahren einen Freund hatte, zwangen sie mich, ihn zu heiraten. Vor der Hochzeit trafen wir uns einmal pro Woche im Park. Bei unseren Treffen waren wir wie versteinert vor Angst. Nicht nur wegen der Sittenpolizei, die es Männern und Frauen, die nicht zur gleichen Familie gehören, nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit zusammen zu sein. Wir hatten auch Angst davor, von unseren Familien gesehen zu werden. Wir hatten sogar zu viel Angst, Händchen zu halten. Wir mussten also heiraten, damit unsere Familien ihr Gesicht wahren konnten und damit wir vor der Sittenpolizei und dem Urteil der Gesellschaft, einschliesslich unserer eigenen Familienmitglieder, sicher waren. Während unserer Ehe haben wir nicht einen einzigen Tag zusammengelebt.

Als ich 18 Jahre alt war, zog ich in eine andere Stadt, um zu studieren. Mit 22 lebte ich unabhängig und arbeitete für ein Privatunternehmen, später in der Unternehmensberatung. Während ein solches Leben für eine junge Frau im Westen völlig normal ist, war dies für meine Familie und die iranische Gesellschaft überhaupt nicht akzeptabel. Als ich alt genug war, um zu erkennen, dass unsere Ehe ein grosser Fehler war und ich sie beenden wollte, erhielt ich von meiner Familie eine sehr harsche Rückmeldung. Es war die erste Scheidung in beiden Familien. Danach war ich isolierter und eingeschränkter als je zuvor. Ich wurde in der Gesellschaft als verletzlicher wahrgenommen, weil ich geschieden und keine Jungfrau mehr war.

Vielleicht werde ich eines Tages ein Buch, einen dramatischen Roman, über mein Leben schreiben, einen satirischen Einblick in das normale Leben einer iranischen Frau für den Rest der Welt.

Die iranische Gesellschaft hat sich im letzten Jahrzehnt rapide verändert. Es ist nicht mehr verwerflich, als Frau allein und unabhängig zu leben. Sogar einen Freund zu haben und sich scheiden zu lassen, ist nicht mehr so verpönt wie noch vor 20 Jahren, aber die Segregation zwischen den Geschlechtern ist immer noch deutlich zu spüren. Während sich die gesellschaftlichen Normen und kulturellen Praktiken ein wenig verändert haben, sind die diskriminierenden Gesetze der islamischen Republik gleich geblieben.

Eklatante Diskriminierung und unfaire Erwartungen an Frauen sind in der iranischen Gesetzgebung und Praxis weit verbreitet. In allen Lebensbereichen, einschliesslich Heirat, Scheidung, Beruf und Kultur, sind iranische Frauen entweder eingeschränkt oder benötigen die Erlaubnis ihrer Ehemänner oder väterlichen Vormünder. Dadurch werden sie ihrer Autonomie und Menschenwürde beraubt.

Maryam Banihashemi
Vielleicht werde ich eines Tages ein Buch, einen dramatischen Roman, über mein Leben schreiben, einen satirischen Einblick in das normale Leben einer iranischen Frau für den Rest der Welt.

Nach meinem MBA-Abschluss im Iran besuchte ich einige Kurse an der Universität Koblenz in Deutschland im Rahmen des Programms der Europäischen Union über internationale Wirtschaft und Marketing. Das war direkt nach der grünen Protestbewegung im Iran im Jahr 2009, ich war damals schon auf den Strassen und nahm an den Demonstrationen teil. Ich trug ein grünes Armband und erklärte Menschen aus verschiedenen Ländern bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wofür wir kämpfen. Bevor ich in die Schweiz kam, hatte ich mehrere Länder bereist und war naiv genug, zu glauben, dass sich die Welt um Demokratie und Freiheit für jeden Menschen auf diesem Planeten kümmert.

Ich habe mich nie als politische Aktivistin bezeichnet, bis ich mich 2009 den Menschen bei den Protesten im Iran anschloss. Viele Iraner:innen kämpfen heute für die Revolution. Damals glaubten wir noch, dass wir die Situation mit Reformen ändern können. Aber nach all den Jahren, in denen wir es versucht haben, sind wir uns heute alle sicher, dass es keinen Platz für Reformen gibt. Dass sie keinen Erfolg haben werden. Wir wollen ganz klar, dass dieses mörderische, korrupte Regime verschwindet.

Aber als ich in die Schweiz kam, ein freies Land, ein Vorbild für Demokratie, dachte ich, obwohl ich weit vom Iran entfernt bin, könnte ich den Demonstrant:innen im Iran helfen, indem ich hier aktiv werde. Ich dachte, dass die Schweizer Regierung nicht schweigen würde, wenn sie sieht und hört, was im Iran vor sich geht. Und so versuchte ich, ein Echo für die Stimmen aus dem Iran zu sein. Am 24. September 2022 hatte ich mir während unserer ersten Demonstration die Haare geschnitten und so die Aufmerksamkeit der Politiker:innen und Medien erlangt, um über das zu sprechen, was man heute die «Iranische Revolution» nennt.

Nun, ich glaube, es ist schwer, hier in der Schweiz zu leben und nicht über die aktuelle Situation im Iran informiert zu sein. Aber ich bin schockiert darüber, wie die Schweizer Regierung uns so lange ignoriert hat und dass sie es am Ende vorgezogen hat, das iranische Volk, die Menschenrechte und die Demokratie nicht zu unterstützen, um ihre aktuellen Beziehungen zum Regime zu wahren.

Es ist unglaublich, dass in einem freien Land, das fest an die Demokratie glaubt, die Regierung sich nicht um die Demokratie in anderen Ländern kümmert.

Was ist nun mit der Zukunft?

Wir glauben fest daran, dass die Proteste dieses Mal anders sind, deshalb nennen wir sie eine Revolution, und wir kämpfen bis zum Sieg. Viele gebildete und talentierte Iraner:innen mussten in den letzten vier Jahrzehnten den Iran verlassen, weil sie unter den Bedingungen, die das diktatorische Regime geschaffen hat, nicht leben konnten.

Wir hoffen auf einen freien Iran, in dem alle Iraner:innen unbeschwert leben können. Für mich als Naturliebhaberin ist die Schweiz ein Paradies, in dem ich Berge erforschen und besteigen kann; dies ist das Land, in dem meine Tochter geboren wurde und das sie ihr Zuhause nennt, und ich bin sehr glücklich, hier zu leben. Der iranische Pass und die Schweizer Aufenthaltsgenehmigung C geben mir die Möglichkeit, zu entscheiden, wo ich in Zukunft leben möchte. Ich hoffe, es wird bald wieder der Iran sein.

Maryam Banihashemi
Es ist unglaublich, dass in einem freien Land, das fest an die Demokratie glaubt, die Regierung sich nicht um die Demokratie in anderen Ländern kümmert.

Was können die Schweizerinnen und Schweizer jetzt tun, um dem iranischen Volk zu helfen?

  • Ich habe zu Beginn der Proteste eine Petition gestartet, um die Schweizer Regierung zum Handeln aufzufordern. Bisher konnte ich erst knapp 10'000 Unterschriften sammeln. Sie ist in vier Sprachen hochgeladen: Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Eigentlich wollen wir die Petition nächste Woche der Schweizer Regierung übergeben. Also bitte helft mir, diese mit mehr Unterschriften zu stärken.
  • Fordert auch ihr die Regierung auf, Massnahmen zu ergreifen und jegliche Geschäftsbeziehungen und Verhandlungen mit der mörderischen Islamischen Republik zu stoppen sowie Sanktionen gegen alle Schlüsselfiguren des Regimes zu verhängen. Lasst diese und ihre Familien nicht in die Schweiz einreisen, nachdem sie aus dem Iran geflohen sind und das Geld verstecken wollen, das sie aus dem Iran gestohlen haben. In der Schweiz gibt es keine grosse Kluft zwischen Volk und Regierung. Ich glaube, dass die Menschen das verlangen können, was ihnen wichtig ist.
  • Nehmt an Demonstrationen teil, die wir regelmässig veranstalten. Ich bin Mitglied der Gruppe «Free Iran Switzerland», wo wir uns für weitere soziale und politische Aktionen zusammengeschlossen haben. Weitere Informationen zu unseren nächsten Demonstrationen und Aktionen findest du auf unseren Social-Media-Kanälen.
  • Hilf uns, die breite Masse der Gesellschaft zu erreichen. Das Internet und die sozialen Medien funktionieren im Iran aufgrund der vom Regime auferlegten Beschränkungen nicht gut, aber wir Iraner:innen im Ausland spielen eine grosse Rolle bei der Verbreitung der Nachrichten in den Medien. Ich bin auf meinem Instagram-Account recht aktiv, um den Menschen nützliche Informationen zu liefern. Grössere Accounts können noch effektiver sein. Es gibt einige Accounts mit Millionen von Follower:innen wie zum Beispiel Joko und Klaas in Deutschland, die den Iraner:innen Sendezeit gegeben haben, um das Bewusstsein zu schärfen.
  • Weitere NGOs, Verbände und Organisationen können uns auf unserem Weg im Kampf für die Freiheit im Iran unterstützen.
«Frau, Leben, Freiheit!»
43 Jahre haben die Frauen in Iran gelitten, jetzt reicht es ihnen. Der Tod von Mahsa Amini hat zu landesweiten Protesten geführt. Dabei geht es um weit mehr als um das Kopftuch.