Die Kosmetikerin in New York, die Marktverkäuferin in Kolumbien, die Bäuerin in Vietnam, die Näherin in Kirgisistan, die Unternehmerin in Kambodscha, die Biologin in Costa Rica, die Regisseurin in Georgien und die Lehrerin im Kosovo. Acht Frauen, die etwas gemeinsam haben: Sie arbeiten ausserhalb der eigenen vier Wände und sorgen damit für das Überleben ihrer Familie. Und ihre Stimme verhallt im Lärm dieser Welt.

Unsere Gastautorin hat sie auf ihrer einjährigen Weltreise in ihren Wohnzimmern besucht, sie bei der Arbeit begleitet und gefragt: Warum tun sie, was sie tun? Und was sind ihre Träume?

Das Haus von Zhanyl Baisheva (59) liegt mitten in Bokonbayevo, einer Kleinstadt mit rund 11'000 Einwohnenden unweit des Ufers des grössten kirgisischen Sees Yssyk-Köl auf 1800 Metern über Meer. Eine schwere, weiss bemalte Eisentür hält neugierige Blicke in den Innenhof fern. Eine Klingel gibt es nicht. Wer die Familie Baisheva besuchen will, betritt auf eigene Faust das sorgfältig gestaltete Grundstück. 

Ein steiniger Weg führt am Wohn- und Gästehaus, am kleinen Laden und am Atelier vorbei auf einen kleinen Platz, der derzeit mit Schubkarren voller Baumaterialien und Holz vollgestellt ist.

Der zweitjüngste Sohn (24) von Baisheva hat die Besucherin als Erster gesehen. Er wird das Gespräch für seine Mutter auf Englisch übersetzen. Wenige Augenblicke später kommt Baisheva aus einem der Häuser, eine Kochschürze umgebunden, an der sie gerade ihre frisch gewaschenen Hände abtrocknet.

Sie führt den Besuch ins Atelier. Hier ist es kühl, draussen brennt die Nachmittagssonne. In Bokonbayevo sind die Sommermonate geprägt von Trockenheit und Wärme, die Winter von Schnee, Kälte und Wind.

Der Arbeitsraum ist aufgeräumt, einzig auf dem langen Tisch stapeln sich unzählige Filzzuschnitte. Baisheva verbringt die meiste Zeit ihrer Tage in diesem Raum. Ihr ältester Sohn hat den alten Schuppen vor wenigen Jahren abgerissen und aus den noch brauchbaren Materialien einen neuen Arbeitsort für seine Mutter gebaut. Seither muss Baisheva im Sommer nicht mehr schwitzen und im Winter nicht mehr frieren. Hier, in ihrem eigenen Atelier, erzählt Baisheva von ihrem Leben. Es ist eine Geschichte voller Zufälle, harter Arbeit und Durchhaltewillen.

Zhanyl Baisheva
Es war schwierig, zu überleben.

«Altyn Oimok», auf Deutsch «Goldener Fingerhut», heisst die Stiftung, die Baisheva vor bald 30 Jahren aufgebaut hat. Sie bietet 30 Frauen Arbeit – und damit Freiheit, Unabhängigkeit und finanzielle Sicherheit. Alles begann nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991. Angst und Panik herrschten, die Menschen verloren ihre zuvor sicher geglaubten Jobs, die Regale in den Läden blieben leer. Während sich die Männer mit Alkohol von der Arbeitslosigkeit abzulenken versuchten, blieb es den Frauen überlassen, für die Familien zu sorgen.

Zhanyl Baisheva, eigentlich Mutter, Hausfrau und Schneiderin, nahm eine Stelle als Lehrerin an. An  freien Tagen verkaufte sie zusätzlich Brot und Gebäck in der Hauptstadt Bishkek, eine fünfstündige Autofahrt entfernt. Ihr Mann arbeitete auf einem Bauernhof. «Damals haben wir alle nur darüber nachgedacht, was für eine Zukunft unsere Kinder haben werden», sagt Baisheva heute. «Das Geld reichte kaum zum Überleben.»


Eine Begegnung in Bishkek im Jahr 1996 zündete schliesslich einen Funken in Baisheva. Eine Vertreterin der Hilfsorganisation «Aid to Artisans» fragte, ob Baisheva versuchen wolle, das traditionelle Kunsthandwerk Kirgisistans professionell auszuüben. Das Filzen, das Färben, das Sticken, das Nähen. Mit gestickten Stoffbahnen und gefilzten Teppichen werden in Kirgisistan die Jurten ausgelegt – zum Schutz vor Kälte und zur Dekoration. 

Der Funken sprang, über und 1997 gründete Baisheva mithilfe der Hilfsorganisation die Stiftung «Altyn Oimok». Sie holte Frauen aus der Region dazu. Zusammen nähten sie Kissenbezüge, filzten Teppiche, Hausschuhe und Hüte. Die meisten der rund 30 Frauen, die für die Stiftung arbeiten, leben abgelegen in kleinen Dörfern oder Zeltstädten. Sie filzen und nähen zu Hause, die fertigen Produkte schicken sie per Kurier nach Bokonbayevo ins Atelier. «So helfe ich ihnen, denn viele haben mehrere Kinder, sind alleinerziehend oder betagt, weshalb sie den Weg hierher nicht machen könnten.»

Zhanyl Baisheva
Ich war die Anführerin, und irgendwie habe ich es geschafft, den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Die Revolutionen Mitte der Nullerjahre überstanden Baisheva und ihre Mitstreiterinnen dank der Stiftung. «Es war schwierig, zu überleben.» Aber sie habe keine Wahl gehabt: «Ich war die Anführerin, und irgendwie habe ich es geschafft, den Betrieb aufrechtzuerhalten.» Ihre Familie habe Vieh und Land verkauft und die ganze Energie in die Stiftung gesteckt.

Mit den Frauen, die in ihrem Atelier arbeiteten, teilte sie alles, sie erzogen ihre Kinder gemeinsam. «Ich sage immer: Mein Mann hat für unsere Familie, das Haus und den Hof gesorgt. Ich habe mich um die Familien gekümmert.»

Unterdessen wurden die Teppiche von «Altyn Oimok» mit einem Zertifikat der Unesco versehen, Baisheva war Gast an einem Kunsthandwerkfestival in den USA und gab Workshops in Schweden. Die Kinder der Frauen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion in Baishevas Atelier ihre Arbeit begannen, sind unterdessen erwachsen, haben selbst Kinder – und sind Teil der Stiftung. Baisheva bietet ihnen geregelte Arbeitszeiten und finanzielle Sicherheit.

Das Lebenswerk von Baisheva würde ohne ihre Ausdauer, stoische Ruhe und Verbundenheit mit den Frauen der Gemeinschaft nicht existieren.

Das neue Atelier scheint die nun angebrochene Ära der Stiftung eingeläutet zu haben. Baisheva sagt: «Ich hoffe, dass mein ältester Sohn und meine Schwiegertochter die Stiftung übernehmen werden.» Dann könnte sie, die vier Kinder grossgezogen, ein Unternehmen aufgebaut, Frauen zur Unabhängigkeit verholfen und das traditionelle Kunsthandwerk am Leben gehalten hat, sich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Pause gönnen.

Denn trotz glücklicher Zufälle ist das Lebenswerk von Baisheva eines, das ohne ihre Ausdauer, stoische Ruhe und Verbundenheit mit den Frauen in ihrer Gemeinschaft nicht existieren würde.

Das Telefon läutet. Zhanyl Baisheva wühlt zwischen den Filzresten, bis sie ihr Mobiltelefon in der Hand hält. Eine kurze Begrüssung, dann flüstert sie ihrem Sohn zu: «Eine Bestellung, ich muss weg.»

Zur Autorin: Silvana Schreier ist Redaktorin bei der Regionalzeitung «bz – Zeitung für die Region Basel». Während ihrer Reise hat sie als freischaffende Journalistin gearbeitet. Sie lebt in Olten.

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