Der Koordinationsabzug ist ein Relikt aus früheren Zeiten. Geschaffen für das traditionelle Familienmodell, benachteiligt er bis heute Menschen mit kleinen Einkommen – allen voran Frauen. Morgen könnte der Tag sein, an dem die Politik endlich einen ernsthaften Schritt unternimmt, um das veraltete System zu kippen. Der Ständerat wird im Rahmen der Reform über die Berufliche Vorsorge (BVG) auch über den Koordinationsabzug diskutieren.

Warum gerade Frauen und Menschen mit tiefen Einkommen heute benachteiligt sind, zeigt ein Beispiel: Eine Pflegefachfrau verdient bei einem Arbeitspensum von 100 Prozent 5400 Franken. Sie wird Mutter, übernimmt den Hauptteil der unentgeltlichen Care-Arbeit zu Hause und reduziert ihr Arbeitspensum in der Pflege auf 50 Prozent. Ihr Jahreslohn beträgt nun noch 32'400 Franken. Weil ihr von diesem Lohn 25’095 Franken Koordinationsabzug abgezogen werden, sind nur gerade 7305 Franken in der Pensionskasse versichert. Nur für diese 7305 Franken werden anteilig Beiträge in ihre zweite Säule einbezahlt. Schon nach wenigen Jahren im reduzierten Pensum hat sie in ihrer Pensionskasse grosse Lücken.

Warum soll der Koordinationsabzug angepasst werden?

«Der Koordinationsabzug in seiner heutigen Form ist ein Systemfehler, der nicht mehr zu den gesellschaftlichen Strukturen passt. Er wurde von Männern in der Politik für ihre typischen, eher hohen Vollzeiteinkommen entwickelt, an Teilzeit- oder kleine Einkommen sowie an Mehrfachbeschäftigte hat man schlicht nicht gedacht», betont Kathrin Bertschy, GLP-Nationalrätin und Co-Präsidentin von alliance F. Der fixe Abzug sei massgeblich dafür verantwortlich, dass Rentnerinnen über alle drei Säulen hinweg im Schnitt fast 20'000 Franken weniger Rente erhalten als Männer. Festhalten: Der Gender Pension Gap in der zweiten Säule beträgt 60 Prozent!

Kathrin Bertschy, GLP-Nationalrätin
Der Koordinationsabzug in seiner heutigen Form ist ein Systemfehler, der nicht mehr zu den gesellschaftlichen Strukturen passt. Er wurde von Männern in der Politik für ihre typischen, eher hohen Vollzeiteinkommen entwickelt, an Teilzeit- oder kleine Einkommen sowie an Mehrfachbeschäftigte hat man schlicht nicht gedacht.

Die Frage, die morgen im Ständerat behandelt wird, lautet: Soll dieser fixe Koordinationsabzug fallen? Frauenorganisationen fordern dies bereits seit vielen Jahren, damit die Benachteiligung von Frauen in der zweiten Säule endlich ein Ende hat. Nun hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates dieses Anliegen aufgenommen. «Seit 35 Jahren haben Frauen über die Parteigrenzen hinweg politisch immer wieder versucht, den Systemfehler des fixen Koordinationsabzuges zu korrigieren. Bisher vergebens», sagt Kathrin Bertschy und ergänzt: «Es ist das erste Mal, dass das Thema über eine Gesetzesrevision angegangen wird. Die Chancen für Veränderung stehen meiner Meinung nach gut.»

Warum gibt es den Koordinationsabzug?

Der Sinn des Koordinationsabzuges ist, die doppelte Versicherung des Lohnes zu verhindern. Konkret heisst das, man soll nur für jenen Lohnanteil Pensionskassenbeiträge bezahlen, für den man nicht bereits AHV-Beiträge zahlt. Um dieses Ziel zu erreichen, zieht man gemäss heutigem System beim Jahreslohn einen fixen Betrag ab – den Koordinationsabzug. Die Höhe des Betrags legt der Bundesrat fest. Aktuell liegt er bei 25‘095 Franken. Was nach diesem Abzug übrig bleibt, ist der sogenannte koordinierte Lohn. Von diesem werden die Pensionskassenbeiträge bezahlt. Er ist massgeblich für die spätere Rente.

Warum leiden vor allem Frauen unter dem heutigen System?

Durch den Koordinationsabzug schrumpfen die Beiträge an die zweite Säule massiv zusammen, weil nur noch ein kleiner Teil des Lohnes überhaupt versichert ist. Besonders zu spüren bekommen das tiefe Einkommen. Wer wenig verdient, kann wegen des Koordinationsabzuges noch weniger in die Pensionskasse einzahlen. Die Folgen sind tiefe Renten oder sogar Altersarmut. Ihren Zweck, den Lebensstandard nach der Pensionierung zu erhalten, erfüllt die zweite Säule damit längst nicht mehr. «Für Frauen ist dieses System besonders nachteilig, da sie häufiger in Tieflohnsektoren tätig sind, häufiger Teilzeit arbeiten und selbst im gleichen Beruf teilweise noch weniger verdienen als Männer. Das benachteiligt sie gleich mehrfach», erklärt Kathrin Bertschy.

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Welche Änderungen werden politisch diskutiert?

Dass das aktuelle System nicht mehr zeitgemäss ist, hat die Politik inzwischen verstanden. Darum wird der Koordinationsabzug im Rahmen der aktuellen BVG-Reform diskutiert. Wie weit die Anpassungen allerdings gehen, ist noch offen. Besonders wenn tiefe Einkommen besser versichert werden sollen, kostet das die Arbeitgeber:innen mehr Geld. Der Bundesrat schlägt vor, den Koordinationsabzug zu halbieren, auf rund 12'500 Franken. Diesem Vorschlag hat auch die vorberatende Kommission des Nationalrates zugestimmt. Für die Pflegefachfrau im 50-Prozent-Pensum würde dies bedeuten, dass rund 19'900 Franken ihres Einkommens in der zweiten Säule versichert sind. «Das ist ein Anfang, aber wirklich fair ist das noch nicht. Der Vorschlag ist nach wie vor unfair für tiefe Einkommen oder Mehrfachbeschäftigte, sie kriegen immer noch einen zu kleinen Anteil der Arbeitgeberbeiträge», betont Bertschy.

Weiter geht die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Sie will einen Systemwechsel. Ihr Vorschlag: ein anteilsmässiger Koordinationsabzug von 15 Prozent. Damit wären alle Einkommen zu 85 Prozent in der zweiten Säule versichert. Für die Pflegefachfrau wäre das bei der Altersvorsorge ein grosser Sprung. In diesem System wären 27'540 Franken ihres Lohnes in der Pensionskasse versichert. Das ist fast viermal mehr als heute. Für Kathrin Bertschy ist klar: «Diese Variante würde endlich Gleichstellung in der beruflichen Vorsorge bringen.»

Was sagen die Kritiker:innen?

Der Antrag der ständerätlichen Kommission ist umstritten. Der Gewerkschaftsbund, der Arbeitgeberverband sowie der Gewerbeverband lehnen diese Lösung ab – aus Kostengründen. Die Gewerkschaften befürchten eine zu hohe Belastung der tiefen Einkommen. Ihr Argument: Mit einer höheren versicherten Lohnsumme sind auch die BVG-Abzüge beim Lohn höher. Es sei zwar richtig, dass ein prozentualer Koordinationsabzug für Teilzeitbeschäftigte positiv sei, sagt Gabriela Medici, Zentralsekretärin Sozialversicherungen beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund. Das Problem sei die Höhe: «15 Prozent entsprechen faktisch einer Abschaffung des Koordinationsabzuges. Das ist für Personen mit tiefen Einkommen eine grosse Zusatzbelastung, die sie allein bezahlen müssen.»

Kathrin Bertschy
Ich hoffe, dass wir es endlich schaffen, eine anständige Altersvorsorge auf die Beine zu stellen und alte Geister aus dem Gesetz zu bringen.

Ähnlich argumentiert der Schweizerische Gewerbeverband: «Die BVG-Kosten würden im Niedriglohnbereich überproportional stark erhöht. Das können sich weder die Betriebe noch die betroffenen Angestellten leisten», sagt Präsident Fabio Regazzi. Er befürchtet gar, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Für den Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) stellt sich die Frage nach dem «Preis-Leistungs-Verhältnis», wie Lukas Müller-Brunner, Ressortleiter Sozialpolitik ausführt. «Der Vorschlag hat insbesondere für Arbeitgeber mit vielen Teilzeitangestellten oder niedrigen Löhnen zur Folge, dass die Vorsorge massiv teurer wird.» Der SAV unterstütze darum den Vorschlag des Bundesrates zur Halbierung des Koordinationsabzuges.

Wie stehen die Chancen für den Systemwechsel?

Kathrin Bertschy weiss um diese Kritik und kontert. Bereits heute gelte ein Koordinationsabzug von 15 Prozent bei hohen Einkommen, und er sei dort durchaus tragbar. Die Kritik des Arbeitgeberverbandes und des Gewerbeverbandes ist für sie darum nur vorgeschoben und scheinheilig: «Die BVG-Kosten im Hochlohnbereich sind heute für die Arbeitgeber:innen überproportional hoch. Diese ist man aber bereit zu tragen. Warum die Kosten bei den Tieflöhner:innen dann für die Arbeitgebenden nicht tragbar sein sollen, verstehe ich nicht.» Wenn man hohe Einkommen gut versichern könne, sei das doch auch bei den kleineren möglich, so Bertschy.

Morgen Mittwoch berät der Ständerat die BVG-Reform. Kathrin Bertschy ist zuversichtlich, dass der Systemwechsel beim Koordinationsabzug eine Mehrheit in der kleinen Kammer finden wird: «Es gibt zu wenig gute Gegenargumente. Ausserdem ist es die erste Legislatur mit einem höheren Frauenanteil im gesamten Parlament. Ich hoffe, dass wir es damit endlich schaffen, eine anständige Altersvorsorge auf die Beine zu stellen und alte Geister aus dem Gesetz zu bringen.»

Stimmt der Ständerat zu, ist erst die erste Hürde geschafft. Im Herbst entscheidet dann der Nationalrat darüber, ob der 35-jährige Kampf endlich ein Ende hat oder erst in die nächste Runde geht. Wir halten dich auf dem Laufenden.

Update zur Ständeratssitzung vom 15. Juni
Wer wissen möchte, wie es mit dem Koordinationsabzug weitergeht, braucht Geduld. Der Ständerat hat das Thema nicht behandelt. Der Grund: Das gesamte Reformpaket wurde von den Rät:innen kritisiert und an die Kommission zurückgeschickt. Diese soll noch einmal über die Bücher. Hauptkritikpunkt war dabei nicht der Koordinationsabzug, sondern die Kompensationszahlung. Die alten Geister dürften damit noch eine Weile im Gesetz bleiben. Wann die BVG-Reform mit dem Koordinationsabzug wieder in den Ständerat kommt, ist noch offen. Wir halten dich auf dem Laufenden.

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