In den letzten Monaten habe ich immer wieder überlegt, mein gesamtes Leben umzukrempeln: Mit der Familie in eine Wohngemeinschaft ziehen? Eine lange Reise machen? Mich beruflich völlig neu orientieren? Meine Sinnkrise und Unzufriedenheit wurden immer stärker, eine Veränderung musste her. Ende 2022 dann endlich die Entscheidung: Ich kündigte meine Festanstellung und mache mich nun vorerst als Journalistin, Autorin und Moderatorin selbstständig.

Doch nicht nur ich startete mit einer grossen Veränderung ins Jahr 2023. In meinem Bekanntenkreis werden gerade Beziehungen en masse beendet, Lebensmittelpunkte verschoben, Start-ups gegründet und vor allem: Jobs gekündigt. Nicht nur bei denen, die es sich leisten können – einige gehen sogar sehr grosse finanzielle Risiken ein.

Doch warum befinden sich gerade so viele Menschen in Sinnkrisen und dadurch in Umbruchstimmung?

Marah Rikli
Meine Prioritäten hatten sich von einem Moment auf den anderen verschoben. Plötzlich ging es nicht mehr um die nächste Weiterbildung oder die Karriereleiter, sondern einzig und allein darum, diese Notlage zu meistern.

Die Psycholog:innen und Sinnforscher:innen der Universität Innsbruck Tatjana Schnell und Henning Krampe sehen die Pandemie als einen möglichen Grund. Jetzt, wo alles vorbei sein soll, herrsche bei vielen Orientierungslosigkeit oder Unsicherheit. Ausserdem war der Lockdown für viele die erste Zeit seit Jahren, in der sie aus dem Hamsterrad der stressigen Erwerbsarbeit kamen. Der Rat der Expert:innen: «Nutzen Sie diese Sinnkrise, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.» Eine Krise könne den Raum dafür öffnen, schonungslos hinzuschauen, und damit eine Chance sein, sich selbst zu hinterfragen, zu wachsen und wichtige Weichen in unserem Leben neu zu stellen.

Auch bei mir war die Covid-Pandemie ein Auslöser für den Wunsch nach Veränderung. Meine Prioritäten hatten sich von einem Moment auf den anderen verschoben. Plötzlich ging es nicht mehr um die nächste Weiterbildung oder die Karriereleiter, sondern einzig und allein darum, diese Notlage zu meistern. Bei mir hiess das: die Familie durch die Krise und das Team am Arbeitsplatz durch die Homeoffice-Pflicht zu bringen. Eine Stunde im Garten zu arbeiten, mit geliebten Menschen zusammenzukommen, sogar ein Waldspaziergang fühlten sich für mich plötzlich viel intensiver und wichtiger an als vor dem Lockdown. Danach hatte ich grosse Mühe, wieder in den alten Stress einzusteigen, vieles erschien mir sinnlos. Mehr und mehr wollte ich mich neu ausrichten.

Doch je mehr Menschen dasselbe tun wie ich, desto weniger funktionieren die Systeme, in denen wir leben. Das zeigt sich auch im aktuellen Fachkräftemangel. Gemäss repräsentativen Befragungen ziehen in der Schweiz 1,9 Millionen Arbeitnehmer:innen in Betracht, noch dieses Jahr eine neue Stelle zu suchen. Jede dritte Person spielt mit dem Gedanken, zu kündigen. Matthias Mölleney, Leiter des Centers for Human Resources Management & Leadership an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich, sagte in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung fast schon beschönigend: «Ich würde es eine Umorientierungswelle nennen.»

Marah Rikli
Ob es nicht grössere Umbrüche, gar völlig neue Ansätze braucht? Mir zumindest reichen ein paar Ferientage mehr und flexiblere Arbeitszeiten nicht mehr aus, um mich in eine Festanstellung oder aus der Sinnkrise zu bringen.

Um die Lücken im Arbeitsmarkt zu schliessen, sieht Mölleney Potenzial in der Migration – und, natürlich, den Frauen. Um diese zu gewinnen, so der HR-Experte, brauche es aber Anreize und ein Umdenken: «Es wurde über Jahre ständig mehr gefordert und gleichzeitig nicht mehr geboten. Das kann nicht gut gehen. Um Fachfrauen in der Branche zu halten oder sie zurückzuholen, muss man vor allem etwas bieten.» Mölleney nennt als Beispiele neue Arbeitsmodelle, mehr Teilzeitarbeit oder zusätzliche Ferientage.

Ob diese kleinen Anreize bereits ausreichen, um vor allem die Frauen zu gewinnen? Ob es nicht grössere Umbrüche, gar völlig neue Ansätze braucht? Mir zumindest reichen ein paar Ferientage mehr und flexiblere Arbeitszeiten nicht mehr aus, um mich in eine Festanstellung oder aus der Sinnkrise zu bringen. Denn ein weiterer Grund für mein Streben nach Veränderungen ist meine Erschöpfung. Seit ich vor 18 Jahren mein erstes Kind geboren habe, kämpfe ich um die Vereinbarkeit von Job und Care-Arbeit, gegen die Hindernisse, die Eltern erleben, wenn sie sowohl eine gute Beziehung zu ihren Kindern als auch zum Job haben wollen. Dazu kam  die finanzielle Demotivation, die sich durch höhere Steuern und Betreuungskosten einstellte. Viele von euch werden es selbst kennen: Seit Jahren macht ihr  alles, was euch als emanzipierter Frau empfohlen wird, dennoch kommt ihr finanziell  auf keinen grünen Zweig. Das Ergebnis: Ermüdung, Frustration bis hin zur Resignation.

Marah Rikli
Für mich nur logisch, surfen die Frauen je länger je mehr auf der Umorientierungs- anstatt auf der Karrierewelle.

Vor gut einem Jahr sprach ich mit der Soziologin, Genderwissenschaftlerin und Autorin Franziska Schutzbach über ihr Buch «Die Erschöpfung der Frauen». Neben vielen anderen Faktoren, die Frauen in Krisen treiben, nimmt die Soziologin auch die «doppelte Vergesellschaftung der Frauen» ins Visier. Schutzbach führte den Begriff im Interview so aus: «In unserer Gesellschaft wird den Frauen die Familienarbeit zugewiesen, da diese als ‹typisch weibliche› Arbeit gilt. Ihnen wird gesagt, das sei eben ihre ‹Natur›. Die Wirtschaft kann das als moralische Gratisarbeit abschöpfen. Gleichzeitig sind die meisten Frauen auch berufstätig. Sie tragen somit in zweifacher Weise zur Erhaltung der Gesellschaft bei.»

Für mich nur logisch, surfen die Frauen je länger je mehr auf der Umorientierungs-  statt auf der Karrierewelle. Oder wie die damals hochschwangere US-amerikanische Schauspielerin und Stand-up-Komikerin Ali Wong in ihrem Bühnenprogramm «Baby Cobra» witzelte: «I don't want to lean in: I want to lie down.» Sie nahm dabei Bezug auf ihre Krise als Feministin und die Meta-CEO Sheryl Sandberg, Autorin des Buches «Lean In» – ein Appell an die Frauen, sich noch stärker in die männlichen Systeme zu knien, um erfolgreich «Part of the Game» sein zu dürfen. Heute herrscht mehr wohl mehr der Wong- als Sandberg-Trend.

Marah Rikli
Und ich bin mir sicher: Wäre die Care-Arbeit so angesehen wie die Erwerbsarbeit, würden sie auch mehr Männer übernehmen.

Die Journalistin und Feministin Teresa Bückner hätte übrigens eine mögliche Lösung für die aktuelle Sinnkrise und Neuausrichtung unserer Gesellschaft. In ihrem Buch «Alle Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit» plädiert sie für eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle Menschen. In einem Beitrag des SRF sagt sie: «Heute wird die Erwerbsarbeit ins Zentrum gestellt, aber die Bedürfnisse nach Zeit mit Freund:innen und Familie, nach Zeit für sich allein, nach Erholung sollten genauso ernst genommen werden wie wirtschaftliche Anliegen.»

Und ich bin mir sicher: Wäre die Care-Arbeit so angesehen wie die Erwerbsarbeit, würden sie auch mehr Männer übernehmen.

Ich bin gespannt, ob meine Entscheidung, mich selbstständig zu machen, für mich die erhoffte individuelle Veränderung bringt: Mehr Selbstbestimmung, mehr Zeit für die Familie und mich selbst, mehr sinnstiftende Arbeit, weniger Erschöpfung. Doch unabhängig davon bin ich überzeugt, dass es sehr grosse gesellschaftliche Umwälzungen braucht, damit alle Menschen – auch diejenigen, die sich nicht selbständig machen können wie ich – wieder mehr Sinn in den Systemen sehen, in denen wir leben. Die Arbeitszeitverkürzung könnte einen Beitrag dazu leisten, ein Grundeinkommen oder die Bezahlung der Care-Arbeit sind weitere Gedanken dazu.

Politik und Familie sind schwer vereinbar
In der Schweiz lassen sich Politik und Familie nur schwer vereinbaren. Das hat Folgen für Frauen.
Adieu, liebe Schweiz: Ein Abschiedsbrief einer Feministin
Nach sechs Jahren verlässt die Menschenrechtsanwältin, Feministin und berufstätige Mutter Alexandra Dufresne die Schweiz. Bevor sie das tut, richtet sie sich aber noch mit einem dringenden Aufruf an uns alle.