Was Sanna Marin getan hat, ist eigentlich nicht der Rede wert: Sie ging an einem freien Wochenende mit Freund:innen ein bisschen feiern und trank einen über den Durst. So, wie das die meisten von uns wohl schon getan haben. Ich für meinen Teil habe vergangenes Wochenende zum Beispiel weitaus schlimmer über die Stränge geschlagen. Im Unterschied zu Sanna Marin sind die meisten von uns aber nicht wichtig genug dafür, dass – entschuldigt bitte den Ausdruck! – irgendein Arschloch Bildmaterial von unseren Eskapaden an die Medien leakt.

Im Falle der finnischen Premierministerin ist genau dies geschehen: Videos von ihrer Partynacht tauchten in der Presse auf, und ein Aufschrei ging durchs Land. So musste Marin sich von Journalist:innen fragen lassen, ob sie im Notfall denn überhaupt handlungsfähig gewesen wäre. Die Chefin der Oppositionspartei gab zu Protokoll, dass Sanna Marin vielleicht eine Bedrohung für die Sicherheit des Landes und sich selber sei. Und die einflussreichste Zeitung des Landes, Helsingin Sanomat, schrieb, die Premierministerin hätte wohl ganz allgemein die Kontrolle verloren.

Es grassierte ausserdem das Gerücht, Marin hätte Drogen genommen. Das stimmt nicht: Den Test, der dies bestätigte, hat sie aus eigener Tasche bezahlt. So steht es zumindest in der Pressemitteilung, die die finnische Regierung am Montag verschickte.

Worüber genau regen sich Medien, Kommentarschreiber:innen und Kolleg:innen aus der Politik also genau auf? Und warum wird der finnischen Premierministerin aufgrund eines Partyvideos die Fähigkeit abgesprochen, ihr Land ordentlich zu regieren?

Für Männer gelten andere Regeln

Reminder: Als Putin halbnackt auf einem Pferd durch die russische Pampa ritt oder Macron im Abstimmungskampf seine Brusthaare zeigte, ernteten zwar auch sie Kritik und Spott, die Fähigkeit, ihren Job zu machen, hat ihnen aber meines Wissens niemand abgesprochen. Und als Englands Premierminister Boris Johnson sein Westminster zu einem Sündenpfuhl aus Alkohol- und Drogenkonsum, Pornografie, Mobbing und sexueller Belästigung machte, dauerte es verdammt lange, bis der Druck gross genug für seinen Rücktritt wurde.

Frauen wird das Recht auf Exzess abgesprochen

Die Gründe dafür, dass für Frauen andere Regeln gelten, sind vermutlich so vielschichtig wie der Sexismus ganz allgemein. In Bezug auf Sanna Marin fällt mir jedoch insbesondere eines auf: Uns Frauen wird das Recht auf Exzess abgesprochen.

Frauen sollen stets hübsch aussehen, immer in der Lage sein, «Nein» zu den sexuellen Avancen eines Mannes zu sagen, und sich ausserdem sich in der Öffentlichkeit möglichst unauffällig benehmen – wenn sie denn schon öffentlich auftreten müssen. Halten sie sich nicht an diese Regeln, sondern nehmen sich das Recht auf Exzess heraus, gelten sie als unattraktiv, unprofessionell und im schlimmsten Fall sogar als selbst schuld an allem, was in der Folge passiert. Zum Beispiel an einem sexuellen Übergriff.

Rosanna Grüter
Die Gründe dafür, dass für Frauen andere Regeln gelten, sind vermutlich so vielschichtig wie der Sexismus ganz allgemein.

Damit möchte ich nun weder sagen, dass Sanna Marins Partynacht besonders exzessiv war, noch den Absturz im Allgemeinen glorifizieren. Immerhin, dass wir Frauen immer die Kontrolle über uns haben (müssen), erklärt vielleicht zu einem Teil, weshalb wir länger leben als Männer. Die gesellschaftlichen Erwartungen an uns schränken aber dennoch das Spektrum unserer Handlungsmöglichkeiten ein. Und vor allem nehmen sie uns die Möglichkeit für hemmungslosen Spass!

Einige wenige Frauen gibt es, die sich ihr Recht auf Entgleisung einfach genommen haben, insbesondere in der Musikbranche: Courtney Love, Amy Winehouse, Whitney Houston oder Britney Spears, zum Beispiel.

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Männer sind Rockstars, Frauen werden entmündigt

Und nun erinnert euch daran, wie diese Frauen öffentlich geächtet wurden. Wie Courtney die Schuld an Kurt Cobains Tod in die Schuhe geschoben bekam. Wie die Medien von Amys seelischen Abgründen profitierten und einige ihrer Eskapaden durch ihre Berichterstattung wohl erst verursachten. Wie Whitney dafür verachtet wurde, dass sie bei ihrem gewalttätigen Ehemann blieb – ein Beispiel für Victim Blaming allererster Güte. Und Britney wurde aufgrund ihrer «Exzesse» gar entmündigt. Eine Frechheit sondergleichen, die einer eigenen Kolumne bedarf!

Und nun denkt mal darüber nach, wie gut es im Vergleich einem Keith Richards erging. Wie die Medien ihn für seinen wilden Lebensstil nicht verdammten, sondern feierten. Und wie sein Aufstieg zur Legende des Rock’n’Roll durch seinen Drogenkonsums nicht gebremst, sondern befeuert wurde. Wie Kurt Cobain erst als Genie bejubelt und dann als Opfer von Courtney bemitleidet wurde. Oder googelt mal «Markus Söder Bier»! Ihr werdet staunen, wie viele Bilder es vom bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden gibt, auf denen er feuchtfröhlich am Bechern zu sehen ist – zum Teil in einem viel desolateren Zustand, als Sanna Marin es jemals war.

Und keine Sau interessierts.