«Es wird für uns Spielerinnen ein historischer Tag», sagt Lia Wälti. Und meint damit den 2. Juli. Dann führt Wälti das Schweizer Frauen-Nati-Team als Captain zum Eröffnungsspiel der Heim-EM ins Basler Joggeli. «Bei mir als Captain ist der Druck vielleicht besonders hoch», sagt Wälti. Weil: voraussichtlich ausverkaufte Stadien, viele Fans. «Ich habe eine Führungsrolle, Verantwortung für das Team und auch dafür, ob wir erfolgreich spielen werden.» 

Das Ziel von Trainerin Pia Sundhage ist klar: Die Gruppenphase überleben und in die Achtelfinals kommen. Und Wälti? «Ich versuche, den Aussendruck so gut wie möglich von mir fernzuhalten.» Auch vermittle sie den jungen Spielerinnen, dass diese «frei aufspielen, Fehler machen und den Druck an uns ältere Spielerinnen abgeben dürfen». Wälti stellt klar: «Wir greifen richtig an, um Geschichte zu schreiben. Wir wollen ein Sommermärchen.»

«Ich wollte einfach tschutten»

Das «Fussballmärchen ihres Lebens» ist für Lia Wälti bereits Realität geworden. Und zwar gleich doppelt. Einerseits ist die 32-Jährige eine der grössten Schweizer Fussballerinnen geworden. Seit 16 Jahren ist sie Teil des Schweizer Nationalteams, sechs Jahre davon als Captain, ausserdem spielt Wälti im Londoner Top-Verein Arsenal. 

Lia Wälti, eine der besten Schweizer Fussballerinnen. Bild: Rabih Haj-Hassan (Etum Films)

Andererseits hat sie sich nun pünktlich zur EM ein Herzensprojekt erfüllt. Zusammen mit ihrer Schwester Meret, Texterin und Autorin, der sie sehr nahesteht, hat sie das Kinderbuch «Lia am Ball» herausgegeben. Mit dem bereits erwähnten Untertitel «Das Fussballmärchen ihres Lebens». Dazu Wälti: «Es war schon immer mein Traum, ein Kinderbuch zu realisieren.» 

Lia Wälti
Ich hatte als Kind keine weiblichen Vorbilder, was ich schade finde.

Warum das? «Ich mag Kinder, sagt Wälti. «Plus hatte ich als Kind keine weiblichen Vorbilder, was ich schade finde.» Sie selbst war Fan von Zinédine Zidane und Andres Iniesta – weil es keine sichtbaren Fussballerinnen gab. Eine Folge davon: «Ich habe nie davon geträumt, Profi zu werden. Weil ich gar nicht realisierte, dass dies eine Möglichkeit wäre.» 

Karriere machte Wälti gleichwohl: Mit 13 Jahren verlässt sie das Elternhaus, um an die Sportschule zu gehen. Mit 18 debütiert sie im Nationalteam, mit 20 unterschreibt sie ihren ersten Auslandsvertrag beim deutschen Bundesligaverein Potsdam. Mit 25 Jahren wechselt sie zu Arsenal, spielt auch mal vor 60’000 Zuschauer:innen.

Längst selbst ein Vorbild

Der Weg dahin war ungewöhnlich: Damals in den Nullerjahren gab es in Wältis Dorf im Emmental kein Mädchenteam. Kein Problem für sie, so spielte sie halt mit den Jungs – als einziges Mädchen. «Das Geschlecht hat für mich keine Rolle gespielt. Ich wollte einfach nur tschutten.» Sie sei schon damals sehr ehrgeizig gewesen, ausgestattet mit einem grossen Siegeswillen.

Lia Wälti
Dass der Frauenfussball gerade so extrem wächst, kann auf Kosten der mentalen Gesundheit gehen, wenn man nicht lernt, mit Druck umzugehen.

«Dass meine Umkleidekabine die des Schiedsrichters war, habe ich nie als schlimm empfunden.» Heute möge das komisch klingen, damals sei das völlig normal gewesen. Das habe sich inzwischen etwas geändert. «Heute haben die ‹Meitschi› ähnlichere Bedingungen wie die Knaben – zum Glück.» Ein Blick auf die Zahlen des Schweizerischen Fussballverbands (SFV) zeigt: 2025 spielen in der Schweiz gut 40'000 Mädchen und Frauen Fussball in einem Verein, zehn Jahre davor waren es erst rund 24'000 gewesen. Der Frauenanteil hat sich in dieser Zeit von 8,5 Prozent auf immerhin 12 Prozent erhöht.

Längst ist Wälti selbst zum Vorbild geworden. «Es fühlt sich noch immer surreal an, dass sich heutige Mädchen – oder auch Jungs – an mir orientieren.» Ihrer Verantwortung als Vorbild ist sie sich durchaus bewusst. «Es ist meine Generation, in welcher der Frauenfussball eine riesige Entwicklung durchmacht und sichtbarer wird.» 

Eine Auszeit war nötig

Nicht alles lief immer rund bei Wälti. Im Frühling 2023 etwa nahm sie sich mitten in der Saison eine Auszeit, musste sie sich nehmen, weil es ihr psychisch nicht gut ging. Die Pause war kurz, doch nötig – um zu merken, dass auch ihre Kräfte nicht unendlich sind. Welchen Preis zahlt Wälti für ihr Profi-Dasein? «Das werde ich nach der Karriere reflektierter beantworten können», sagt sie. Darüber, dass sie wenig bis kaum freie Zeit habe, ihre Liebsten kaum sehe, früh von zu Hause weg musste, möchte sie sich nicht beschweren. Diesen Weg habe sie gewählt. 

«Worüber mir zu sprechen wichtiger ist: Der mentale Preis ist gross.» Der Frauenfussball wachse gerade so extrem, «das kann auf Kosten der mentalen Gesundheit gehen, wenn man nicht lernt, mit Druck umzugehen». Es brauche ein dickes Fell. Und die Erkenntnis, wann eine Pause nötig sei.

Die Kehrseite der Popularität

Auf die Frage, was richtig läuft im Frauenfussball, wird Wälti nachdenklich. «Viele Vereine erkennen, dass es Zeit für einen Kulturwandel ist. Die Löhne werden langsam besser, die Infrastrukturen können – zumindest hier in England – endlich auch von uns Spielerinnen genutzt werden.» Nun spielten auch die Frauen in den grossen Stadien. Vor zehntausenden Fans. 

Lia Wälti
Schief läuft es konkret überall dort, wo Frauen nicht die gleichen Bedingungen haben wie Männer.

England gilt als das Vorzeigeland im Frauenfussball, jedes Team in der Premier League hat ein Frauenteam. England hat in den letzten Jahren konsequent in Frauenfussball investiert, das beginne sich auszuzahlen. «Das gibt eine schöne Kettenreaktion, mit der steigenden Bekanntheit der Frauen steigen auch die Einnahmen», sagt Wälti. «Ich glaube daran, dass sich die Fussballbranche weiterentwickelt, sofern konsequent auch in Frauen investiert wird.» 

Die Kehrseite: Durch die zunehmende Popularität des Frauenfussballs, den Werte wie Toleranz bezüglich Sexualität oder Herkunft auszeichnen, steigt der Hass in sozialen Medien. Davor warnen verschiedene Spielerinnen. Auch Wälti liest deshalb keine Kommentare auf Social Media mehr.

Überhaupt, schief liefe es weltweit gesehen noch an vielen Orten, auch in der realen Welt, «konkret überall dort, wo Frauen nicht die gleichen Bedingungen haben wie Männer». Überall dort auch, wo sexuelle Übergriffe noch immer verbreitet sind – Stichwort spanische Nati-Spielerin Jenni Hermoso. Nach der WM 2023 hat Spaniens Verbandspräsident sie ohne ihre Einwilligung auf den Mund geküsst.

Luft nach oben gibt es zudem nach wie vor bei der Sichtbarkeit der Frauen verglichen mit den Männern, bei den Zuschauerzahlen, in den Entscheidungsgremien und an den Spitzen der Clubs – und, vor allem, bei den Gehältern.

«Ich lebe im Hier und Jetzt»

Wälti studiert BWL und Sportmanagement, zudem lässt sie sich zur Trainerin ausbilden. Wo sieht sie sich in zehn Jahren? Die Frage bringt sie zum Lachen. «Keine Ahnung. Ich lebe im Hier und Jetzt.» Sie habe in ihrer Karriere gelernt, dass sich alles schnell ändern könne. «Ich finde, wenn ich mir zu viele Gedanken über die Zukunft mache, verpasse ich es, den Moment zu geniessen.» 

Sicher wisse sie: Sie möchte reisen und irgendwann eine Familie gründen. «Und einen Job finden, der mich genauso erfüllt wie Fussballspielen. Obwohl das schwierig werden dürfte.»