Macht und Misogynie, Geld und Gier, Patriarchat und Privilegien: Wer die Antwort nicht scheut, darf unseren Kolumnisten alles fragen. Markus Theunert teilt, was er in 25 Jahren Beschäftigung mit Männern und Männlichkeit gelernt hat.

Heute mit der Frage von Josefina (47): «Warum glauben viele Männer, Gleichstellung sei bereits erreicht?»

Liebe Josefina

Ich bin froh um deine Frage. Denn es sind nicht nur «viele» Männer, die glauben, Gleichstellung sei erreicht. Sondern eine deutliche Mehrheit. Was mir besonders zu denken gibt: Je jünger die Befragten, umso überzeugter sind sie von dieser (empirisch unhaltbaren) Annahme.

In Zahlen: Gemäss Schweizer Gleichstellungsbarometer 2024 sehen über zwei Drittel der jungen Männer zwischen 18 und 35 Jahren die Gleichstellung als verwirklicht an: 68% in der Familie, 69% am Arbeitsplatz und 66% in der Politik. Selbst in den Führungsetagen nehmen 56% der jungen Männer kein Gleichstellungsproblem mehr wahr.

Das hat direkte Folgen: Denn wenn man(n) glaubt, es gebe kein Problem, dann fehlt natürlich auch die Legitimation für die gleichstellungspolitischen Massnahmen, die das Problem lösen sollen ...

Weshalb können sich Männer eine solch verzerrte Wahrnehmung leisten? Aus meiner Sicht ist das die logische Konsequenz der besonderen gesellschaftlichen Position, die Männern trotz aller Veränderungen immer noch fraglos zugestanden wird.

«Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, dass sie der Rechtfertigung nicht bedarf», schreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu im Buch «Die männliche Herrschaft»: «Die androzentrische [männliche] Sicht zwingt sich als neutral auf und muss sich nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren».

Markus Theunert
Dass Männer als Mittelpunkt der Gesellschaft gesetzt werden, geschieht in patriarchalen Systemen wie unserem ganz selbstverständlich und ohne jede Begründung.

Was Bourdieu damit meint: Patriarchale Gesellschaften setzen den Blick und die Lebenslage des weissen heterosexuellen cis Mannes als Norm und Nullpunkt. Alle anderen – also insbesondere Frauen, aber auch nicht weisse, nicht heterosexuelle und nicht cis Männer – stellen Abweichungen von der Norm dar. Sie müssen um Sichtbarkeit kämpfen und ihre Perspektiven begründen. Von dieser Arbeit bleiben Männer verschont. Denn sie sind ja die Norm …

Dieses Muster lässt sich schön am Umstand illustrieren, dass es in den grossen Parteien Frauensektionen gibt, welche die spezifischen Anliegen von Frauen artikulieren und vertreten. Die bilden aber nicht etwa das Gegenstück zur «Männersektion», in der Männer die spezifischen Anliegen von Männern artikulieren und vertreten. Sondern sie sind die Ergänzung zur «eigentlichen» Partei, in der Männer ihre Anliegen vertreten, aber ohne diese als geschlechtlich geprägt zu deklarieren.

Diese Männern vorbehaltene Illusion, «einfach Mensch» zu sein, ist das Kernprivileg, das Männern im Patriachat zukommt.

Markus Theunert
Der Mann kann sich in voller Überzeugung der Illusion hergeben, einer von vielen Menschen mit gleichen Chancen zu sein.

Dass Männer als Mittelpunkt der Gesellschaft gesetzt werden, geschieht in patriarchalen Systemen wie unserem ganz selbstverständlich und ohne jede Begründung. Unser kultureller Androzentrismus ist entsprechend verdeckt und wird von Kindern während des Aufwachsens vorerst unbewusst übernommen. Es braucht eine Leistung, einen Erkenntnisschritt, um diese Verführung zu durchschauen.

Erst wenn ein Mann verstanden hat, dass auch er ein soziales Geschlecht hat, hat er genügend Distanz, um über Männlichkeit nachzudenken. Erst jetzt hat er die innere Freiheit, um gesellschaftliche Männlichkeitsanforderungen als solche zu erkennen – und sich zu fragen, ob und wie er sie erfüllen mag. Erst jetzt kann er beginnen, sein Mannsein aktiv und kreativ zu gestalten.

Verweigern sich Männer dieser Einsicht, bleiben der erlernte Androzentrismus ebenso unbewusst wie die strukturellen Ungleichheitsverhältnisse, die damit einhergehen. Der Mann kann sich in voller Überzeugung der Illusion hergeben, einer von vielen Menschen mit gleichen Chancen zu sein. Dass er kraft seines Mannseins mehr Chancen hat, Macht und Mittel zu erlangen, um selbstbestimmt seinen Weg gehen zu können, sieht er nicht.

Wird er auf diesen Reflexionsmangel hingewiesen, fühlt er sich angegriffen – und reagiert gekränkt und wütend. Denn in seiner Wahrnehmung hat ihn nicht seine Teilhabe an männlichen Privilegien nach vorn gebracht, sondern ganz allein seine individuelle Leistung. Diese sieht er durch den Hinweis auf seinen unverdienten Wettbewerbsvorteil als Mann abgewertet.

So konstelliert sich die aktuell schwierige Gemengelage im Geschlechterverhältnis: Immer mehr insbesondere junge Frauen fordern immer eindringlicher nachhaltige feministische Alternativen zum Patriarchat. Immer mehr insbesondere junge Männer sind von diesen Ansprüchen überfordert. In dieser Situation stehen Männern zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Sie können sich entweder selbstkritisch mit Privilegien und Männlichkeitskonzepten auseinandersetzen, um sich für die Suche nach individuell passenden Antworten freizuspielen, wie sie fair und gern Mann sein können. Oder sie gehen in den Gegenangriff, indem sie kurzerhand das Problem für gelöst erklären und das Drängen auf kritische Selbstbefragung als ungerechtfertigte Provokation und Anmassung darstellen.

Wir müssen davon ausgehen, dass eine Mehrheit der jungen Männer den letztgenannten Weg wählt. Es kann deshalb nicht verwundern, dass für sie die Rückkehr zu einer Geschlechterordnung verheissungsvoll ist, in der Männlichkeit unhinterfragt und Männer in ihrer gesellschaftlichen Dominanzposition unangefochten waren. Wir sind als Gesellschaft gefordert, ihnen Alternativen zu diesen Back-to-the-Future-Sehnsüchten anzubieten. Und zwar dringend.

Markus Theunert ist Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Kontakt: theunert@maenner.ch.

Diese Kolumne verfolgt – auf Einladung der ellexx-Redaktion – das Anliegen, einen patriarchatskritischen Blick auf Geschlechter-, Geld- und Gesellschaftsfragen beizusteuern. Unserem Kolumnisten ist es wichtig, seine Unsicherheit transparent zu machen, wo die Bereicherung durch eine reflektierte Männerperspektive aufhört – und wo das «Mansplaining für Fortgeschrittene» beginnt.

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