Das Café im «Chreis Cheib», das Simon Jacoby für das Treffen vorgeschlagen hat, ist rappelvoll. Mittendrin auf der Terrasse bestellt Jacoby einen Tee.

Als Mitgründer und Chefredaktor von Tsüri.ch ist er es, der als Journalist normalerweise die Fragen stellt. Heute nicht. Heute steht Jacoby Rede und Antwort, und zwar bei Fragen, die sonst nur Frauen gestellt werden. Also auch (viel zu) privaten.

Ein Gespräch darüber, wie es dem Schweizer Journalismus geht. Wie viel unbezahlte Arbeit von ihm in Tsüri steckt. Und ob seine Arbeit sein Baby ist.

Du hast vor zehn Jahren Tsüri.ch mitgegründet, bist seit zwei Jahren Geschäftsleitungsmitglied. Keine Angst, dass bald auffliegt, du kannst das alles gar nicht so gut?

(Stutzt kurz.) Doch, im Fall schon. (Grinst dann.) «Fake it till you make it», kännsch? 

(Guckt unschuldig.) 

Ernsthaft, mir ist letztens aufgefallen, dass ich nicht qualifiziert bin. Ich habe weder eine Ausbildung in Journalismus noch in Unternehmensgründung, Unternehmensführung oder Teamleitung. Ich mache einfach. Dass ich mir das zutraue, ist vielleicht eine männlich assoziierte Eigenschaft?

Sag du es mir.

Es spielt wohl mit. Ich habe keine Angst, aufzufliegen, aber Momente des Zweifels gibt es schon. 

Das mit den Hierarchien und der Karriere liegt euch Männern ja nicht so. Du bist trotzdem Chefredaktor. Wie kommt’s?

Das ist Zufall.

Tiefstapler du.

Doch, das ist so. Ich bin in anderen Unternehmen karrieretechnisch nirgends hingekommen. Also … (sucht nach Worten) … habe ich mich ausgeklinkt. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen und habe mein eigenes Ökosystem aufgebaut. Anders wäre es nicht gegangen. Und so funktioniert es einigermassen.

Du bist nicht führbar?

Das ist wirklich so. Ich bin nicht führbar und habe Probleme mit Autoritäten. 

Simon Jacoby
Wir konnten die Arbeitszeit von 40 auf 32 Stunden reduzieren – bei gleichbleibendem Lohn.

Wie führst du selber? Zyklusbedingt launisch? 

(Lacht.) Launisch nicht unbedingt. Meinen Führungsstil hat kürzlich jemand aus dem Team als Laisser-faire bezeichnet. Ich versuche tatsächlich, so wenig wie möglich einzugreifen, und hoffe, dass die Leute selber mitdenken und motiviert sind. So identifizieren sie sich mehr mit der Sache, und ich habe weniger zu tun. Win-Win.

Du bist faul?

(Undefinierbare Grimasse.)

Von wegen weniger zu tun: Ihr arbeitet vier Tage pro Woche, zum Lohn von 100 Prozent. Funktioniert das?

Ja. Aber zugegeben, wir arbeiten etwas mehr als vier Tage. Und: Ich war zu Beginn skeptisch. Wir haben das Modell deshalb zuerst drei Monate getestet. Meine Angst war damals, dass die Produktivität, also der Output, sinkt. Dass wir weniger Artikel und weniger Einnahmen haben – und weniger Mitglieder gewinnen.

Und?

Diese Sorge war unbegründet. Wir konnten die Arbeitszeit von 40 auf 32 Stunden reduzieren – bei gleichbleibendem Lohn. Nämlich 4800 Franken für 100 beziehungsweise eben 80 Prozent. 

Die Produktivität ist nicht gesunken?

Eben nicht. (Ist sichtlich stolz.)

Wenig männlich, so ein Teilzeit-Dasein zu fristen.

Ob männlich oder nicht: Es ist das coolste Modell!

Einverstanden. Aber: Als Mutter muss ich – sofern ich den Nachwuchs tagsüber sehen will – Teilzeit arbeiten. Für einen Teilzeit-Lohn. Alles unter 80 Prozent kann sich bei Tsüri kaum ein Elternteil leisten. Schliesst ihr Eltern aus?

Eltern sind bei uns schlecht vertreten, ja. Das liegt sicher auch am schlechten Lohn. Wir schliessen damit auch andere Menschen aus, alle etwa, die jährlich den vollen Betrag in die dritte Säule einzahlen wollen, weil sie sonst von Altersarmut betroffen sind. Ich gebe zu: Bei Tsüri arbeiten Mittelstandkids, man muss es sich leisten können. Und bevor du fragst: Ja, das muss sich ändern. Wir konnten die Löhne immerhin von 4300 auf 4800 Franken erhöhen. Das Ziel ist es, marktübliche Löhne zu bezahlen.

Als Chefredaktor hättest du andernorts Geld für Porsche und dicke Uhr … Würde das deine Männerseele nicht entzücken?

Mir ist meine Freiheit wichtiger als ein guter Lohn. Mich interessieren weder Auto noch Uhr. Und ich wohne – selbstgewählt – in einer WG. Es geht gut.

Simon Jacoby
Gleichberechtigung ist keine Ideologie oder politische Agenda, sondern müsste eine Selbstverständlichkeit sein.

Du bist preisgekrönter Journalist. Und jetzt muss ich kurz ablesen: Du bist zudem Gründungsmitglied und Co-Präsident des Verbands Medien mit Zukunft, Vize-Präsident des Gönnervereins für den Presserat und Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. Bekommst du Geld für diese Ämter?

Ich habe gedacht, jetzt kommt die Frage, ob ich das nur bekommen habe, weil ich so gut aussehe. 

Du hast dich vorbereitet, sehr gut. Und, keine Sorge: Die Frage kommt noch.

Da bin ich froh ... Zurück zur Frage: Ich kriege Geld für meine Arbeit bei Tsüri.ch, für alle anderen Ämter nicht.

Gar nichts?

Nein.

Unbezahlte Arbeit ist nun mal Männersache. Wie viel unbezahlte Arbeit von dir steckt in Tsüri?

Mit diesen ehrenamtlichen Ämtli bringe ich halt meine feminine Seite zum Ausdruck … Inzwischen wird meine Arbeit bei Tsüri bezahlt – in der Aufbauphase habe ich eineinhalb Jahre gratis gearbeitet. Wir mussten damals ein Geschäftsmodell etablieren, eine Firma gründen, ein Konzept ausformulieren. Niemand gibt einem 25-Jährigen Geld, wenn er kein Konzept hat.

Von was hast du gelebt? Das riecht nach finanzstarker Frau im Hintergrund.

Ja, die finanzstarke Frau gibt es. Einen Mann übrigens auch: Meine Eltern. Ich studierte damals und hatte Nebenjobs bei Watson und einer Kommunikationsagentur. Ich komme aber auch mit wenig Geld durch.

Polit-Journalist:innen müssen harte Fragen stellen, bei Recherchen unangenehm sein. Ihr Männer geltet als konfliktscheu. Wie schaffst du das?

Recherchieren im Internetzeitalter besteht ja vor allem aus Googeln. Das geht also. Ich bin tatsächlich eher harmoniebedürftig. Mit den Jahren habe ich gelernt, härter aufzutreten, es kostet mich aber immer noch Überwindung. Aber, falls nötig: Heute habe ich eine antrainierte Härte.

Wir befinden uns in einer Zeit des politischen Backlashes. Auch werden Frauen wieder unsichtbarer in politischen Ämtern. Wie kann der Journalismus hier dagegen halten?

Der Journalismus muss darauf hinweisen. Ich finde, Gleichberechtigung ist keine Ideologie oder politische Agenda, sondern müsste eine Selbstverständlichkeit sein. Wir achten bei Tsüri.ch darauf, dass wir so häufig wie möglich Expertinnen befragen, oft auch junge. So versuchen wir, Gegensteuer zu geben, damit die ältere männliche Generation nicht die Berichterstattung dominiert. Plus ist unsere Redaktion – bewusst – divers.

Was bedeutet Journalismus für eine Demokratie? 

Journalismus ist die vierte Gewalt in einer Demokratie. Journalist: innen müssen Missstände aufdecken, machtkritisch sein. Nach oben statt nach unten treten. Studien zeigen zudem: Wo Lokaljournalismus abnimmt oder stirbt, sinkt die politische Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen. Journalismus hat also einen direkten Einfluss auf die Teilhabe an der direkten Demokratie.

Wie, findest du, geht es dem Schweizer Journalismus?

(Blickt düster.) Schlecht. Im Schnitt sterben fünf Zeitungen pro Jahr. Die grossen Verlage haben kein Geschäftsmodell mehr, geben das aber nicht zu. Stattdessen fahren sie Paywalls hoch und verstecken demokratierelevanten Inhalt hinter Bezahlschranken, die sich nicht alle leisten können oder wollen. Gleichzeitig hat der Journalismus eine Stilkrise. Oft wirken Texte wie eine Pflichtübung, es macht keinen Spass, sie zu lesen. Die vielen Krisen weltweit führen zudem dazu, dass die Leute weniger Bad News wollen, was ich verstehe. Auf all das muss der Journalismus Antworten finden. 

Was schlägst du vor?

Es braucht neue Geschäftsmodelle, um Journalismus finanzieren zu können. Es gibt zum Glück gute Ansätze und Beispiele. Bei uns funktioniert es im Moment. Auch «Bajour» in Basel oder die «Hauptstadt» in Bern laufen gut. Zudem gründen wir mit Partner:innen in Winterthur gerade ein neues Stadtmagazin, «WNTI». In nur drei Wochen haben wir dafür 153'000 Franken gesammelt. Crazy. 

Simon Jacoby
Wachsen reizt mich schon. Überall, wo wir zur Medienvielfalt beitragen können, gehen wir hin.

Tsüri bezieht Haltung, böse Zungen sagen, ihr seid aktivistisch. Weil du als Mann und Chefredaktor zum emotionalen Geschlecht gehörst?

Der Begriff des anwaltschaftlichen Journalismus ist zwar etwas in Verruf geraten, aber ich mag ihn. Wir richten uns hauptsächlich an die 20- bis 40-Jährigen in der Stadt Zürich – wir vertreten Positionen, die sich in der Bevölkerungsbefragung der Stadt Zürich spiegeln. Bezahlbare Mieten, mehr Velowege … 

Hast du als expansionslustiger Mann keinen Hunger über Zürich hinaus?

«WNTI» ist zwar «nur» ein neues Projekt mit Partner:innen in Winterthur und somit keine Expansion. Wachsen reizt mich aber schon. Überall, wo wir zur Medienvielfalt beitragen können, gehen wir hin.

Männlich selbstlos: Es geht um die guten Dienste für Medienvielfalt, nicht um dich.

Absolut. Gut, eine Prise Geltungsdrang kann ich nicht leugnen.

Wenn ich dir so zuhöre, komme ich nicht umhin zu denken, Tsüri ist dein Baby. Falls du mal Vater werden solltest, reduzierst du auf 40 oder auf 60 Prozent?

Tsüri ist schon etwas mein Baby, ja. (Pause.) Das finde ich jetzt sehr persönlich, aber da du fragst: Ich werde wohl nie Vater. Würde ich aber Vater werden wollen, würde ich nicht mehr als 50 Prozent arbeiten wollen. 

Du musst nicht alle Fragen beantworten, gell. Ich hätte hier Stopp gesagt. Dafür nun deine Lieblingsfrage: Wie stark nutzt du dein gutes Aussehen für persönliche oder berufliche Vorteile?

Obwohl ich gedacht habe, dass diese Frage kommt, studiere ich noch immer an der perfekten Antwort dazu herum. Entweder ist die Antwort langweilig oder pseudo-lustig … Beides ist doof.

Du dementierst nicht, dein Äusseres zu nutzen.

Das müssen andere beurteilen. Ich finde mich nicht überdurchschnittlich attraktiv oder schön, aber auch nicht unterdurchschnittlich. 

Weiblich bescheiden.

Das ist eher Ausdruck meines nicht überbordenden Selbstbewusstseins. Ich glaube nicht, dass ich da bin, wo ich bin, nur wegen meines Aussehens.

Du bist 36. Anzeichen einer Midlife-Crisis?

Zum Glück nicht. Vielleicht kommt die noch? Obwohl, ich denke nicht. Ich habe ein neues Tattoo, es steht dafür, dass im Leben nichts aufhaltbar ist. Alles geht vorbei, auch in einem positiven Sinne. Darum macht mir das Älterwerden nicht so Angst. Und ich habe das Privileg, dass ich beruflich meine Position schnell anpassen kann: Mal war ich mehr redaktionell tätig, mal mehr im Eventmanagement, jetzt gerade mehr in der Geschäftsleitung. Diese Abwechslung mag ich.

Simon Jacoby
Arbeiten und danach Klappe halten. Find ich gut. 

Blicken wir zum Schluss in die Zukunft: In 20 Jahren bist du 56, schon fast ein alter, weisser Mann. Wie geht es dir dann? 

Ich hoffe, ich bin dann mega entspannt – und kann irgendwo noch ein bisschen mithelfen. Mir ist es ein Anliegen, dass ich die Jungen nicht störe bei ihrer Arbeit. Ich hoffe sehr, ich werde nie zu einem Bremsklotz, der alles besser weiss und nur von früher erzählt.

Jetzt klingst du wie ein Bundesrat. Servir et disparaître, dienen und verschwinden.

Wäre schön, gelänge mir das, ja. Arbeiten und danach Klappe halten. Find ich gut. 

Das war's. Wie war's?

Lustiger als gedacht, entspannter als gedacht.