Drei Tage nach ihrem Anwaltspatent stand Monika Roth im Zivilgericht Basel «wieder auf der Platte» und forderte eine Stelle als Konkursverwalterin. Roth begann ihre Karriere als Gerichtsschreiberin und merkte früh, dass Frauen in ihrer Branche ungleich behandelt werden: «Wenn ein Mann als Gerichtsschreiber anfing, hat man ihm damals automatisch auch noch angeboten, als Konkursverwalter tätig zu sein, weil der in einer besseren Lohnklasse ist. Das wollte ich auch – aber bei mir hiess es, ich solle zuerst noch das Anwaltspatent machen, obwohl ich schon vorher qualifiziert gewesen wäre». Das war 1977, Roth war Mitte 20. Eine knallharte Konkursverwalterin sei sie gewesen, erzählt Roth, «da kannte ich nichts». Beharrlich und unbeirrbar ging sie damals ihren Weg. Heute ist sie eine der gefragtesten Stimmen für Wirtschaftskriminalität.

Einige Jahre später, sie arbeitete damals bei der Schweizerischen Bankiervereinigung, erhielt Roth einen Anruf einer Ökonomin der FDP: «Sie fragte mich, ob ich nebenamtlich als Steuerrichterin beim Kanton Basel-Landschaft anfangen wolle, es werde eine Stelle frei – und man suche dafür spezifisch eine Frau». 18 Jahre lang wirkte Roth schliesslich nebenamtlich am Steuergericht, die letzten Jahre amtete sie parallel dazu auch als Strafrichterin, «bis ich das Steuergericht dann gesehen hatte». Roth arbeitet nun seit 2000 als Strafrichterin, seit 2010 ist sie zudem Vizepräsidentin des Strafgerichts im Kanton Basel-Landschaft.

Familie als Hindernis für Richterinnen-Karriere

In der Schweiz sind 40 Prozent der Richter:innen weiblich, trotzdem sind sie an den Hauptgerichten noch immer untervertreten: An jedem fünften Gericht in der Schweiz gibt es keine hauptamtliche Richterin. Zu diesem Schluss kam die Anwältin Nina Ochsenbein, die ihre Dissertation an der Universität Bern über den Frauenanteil und Fördermassnahmen für Frauen an Schweizer Gerichten geschrieben hat. «Wir sind nicht so nah an der Gleichstellung, wie man vermuten könnte», sagt sie. Richterinnen arbeiten etwa häufiger Teilzeit als ihre Kollegen: Zwei Drittel der Teilzeitstellen sind von Frauen besetzt. Und an Gerichten, die keine Teilzeitstellen bieten, ist der Frauenanteil deutlich geringer; dazu gehört übrigens auch das Bundesgericht. «Für Frauen mit Kindern ist das Fehlen von Teilzeitstellen ein Grund, keine Karriere als Richterin anzustreben», sagt Ochsenbein.

Petra Hauser ist Präsidentin des Obergerichts Glarus, für sie liegt die Herausforderung bezüglich Vereinbarkeit in der Struktur der kleineren Gerichte: «Die kleineren Kantone haben gar nicht so viele Pensen mit einem Fixlohn, dann ist Teilzeit schwerer umsetzbar». Sie selber arbeitet momentan 80 Prozent, bei ihrem Einstieg waren es noch 50, «das war so aber nicht machbar». Hauser kam vor ihrer Wahl zur Richterin als Anwältin vom Bezirksgericht Meilen und setzte sich bei der Landesgemeinde gegen zwei Männer durch, einer war rund zehn Jahre älter als sie und Gerichtsschreiber: «Wir sind jetzt im Jahr 2022, gerade bei den Richterwahlen ist schon ein grösseres Bewusstsein vorhanden, dass es ein ausgewogenes Gericht braucht. Da darf man schon Vertrauen in den Wahlkörper haben», sagt Hauser. Und: An den Gerichten in Glarus tut sich etwas, am Obergericht und am Kantonsgericht wird auf Sommer jeweils eine zweite Teilzeitstelle für das Präsidium eingeführt.

«Die Frauenfrage war ihnen egal»

Für Monika Roth fängt die Diskriminierung aber schon früher an: «Als Frau musst du von Anfang an noch immer wahnsinnig beharrlich und selbstsicher sein, mehr als ein Mann. Du darfst dich nicht unterkriegen lassen. Natürlich ist das nicht fair und es muss sich etwas ändern». Sie selbst habe sich vor allem am Anfang ihrer Karriere durch die Unterstützung ihres Mannes immer stark genug gefühlt, «aber ob ich das alleine geschafft hätte, da bin ich mir nicht sicher». Die Wahl von Richter:innen ist in der Schweiz auch eine Frage der Politik: Das Verhältnis an den Gerichten muss unter den Parteien ausgewogen sein, die Parteien stellen ihre Kandidat:innen selber – als Parteilose:r kann man in der Schweiz also nicht so leicht Richter:in werden. Bezüglich der Ausgewogenheit der Geschlechter scheint aber noch Gleichgültigkeit zu herrschen, das stellte Roth im Laufe ihrer Karriere immer wieder fest. 2016 schrieb sie einen Gastkommentar für die BZ, als es um die Neubesetzung einer Präsidiumsstelle am Strafgericht Baselland ging: Gerade mal eine von sechs Stellen war von einer Frau besetzt. Die SVP stellte den Kandidaten Christoph Spindler, ihm gegenüber trat Caroline Horny aus der SP. Beide waren gleich gut qualifiziert. Roth, selber Mitglied der FDP,  plädierte in ihrem Kommentar dafür, unbedingt die Frau zu wählen. Leider ohne Erfolg, die Wahl des Landrats fiel damals auf Spindler. Überrascht hat das  Roth nicht: «Ich habe damals mit FDP-Politikern aus dem Landrat darüber gesprochen, wie wichtig es wäre, jetzt eine Frau zu wählen. Die hatte daran etwa so viel Interesse, wie wenn wie wenn ich ihnen einen Regenschirm verkaufen wollte, die Frauenfrage war ihnen egal».

Monika Roth
Die Wahl von Richter:innen ist in der Schweiz auch eine Frage der Politik: Das Verhältnis an den Gerichten muss unter den Parteien ausgewogen sein. Bezüglich der Ausgewogenheit der Geschlechter scheint aber noch Gleichgültigkeit zu herrschen.

Regula Kägi-Diener ist ehemalige Rechtsanwältin und Professorin und ​​erste Präsidentin des Berufsverbands Juristinnen Schweiz. Auch sie kritisiert das Wahlsystem: «Wenn man Richterin werden will, setzt das eine gewisse politische Karriere voraus – es gibt ja keine klassische Richterausbildung, die den Einstieg in diesen Beruf garantiert. Und dieses Exponieren innerhalb der Partei entspricht nicht allen Frauen». Viele Parteien, sagt Kägi-Diener, seien auch heute noch oft Männerbünde, die sich gegenseitig stützen und vorwärts bringen – auch wenn das nicht auf alle Parteien gleichermassen zutreffe. Und die Struktur dieser Wahlen sei starr ausgelegt, sagt Kägi-Diener, das mache es schwierig, etwas zu ändern. Dabei ist es aus ihrer Sicht nötig, etwas zu ändern, denn starre Strukturen führen unter anderem auch dazu, dass sich aktive Richterinnen schlecht zu diskriminierenden Strukturen, denen sie unterliegen, äussern können, da sie sich auch darin bewegen müssen. Das widerspiegelte sich übrigens auch in der Recherche für diesen Artikel. Kägi-Diener sagt dazu: «Es ist wie in der Wirtschaft, es gibt eine gläserne Decke und es geht immer auch um Macht. Je weiter oben, umso weniger Frauen. Und wenn man eine Karriere als Richterin machen will, ist man leider von diesen Strukturen abhängig – auch wenn sie einem nicht passen, man muss sich damit arrangieren». Was muss sich also ändern? Für Kägi-Diener liegt die Verantwortlichkeit bei der Politik, «als Richterin kannst du das selber nicht ändern». In einem ersten Schritt könnte das Wahlsystem angepasst werden, weg vom strikten Parteiproporz.

Regula Kägi-Diener
Es ist wie in der Wirtschaft, es gibt eine gläserne Decke und es geht immer auch um Macht. Je weiter oben, umso weniger Frauen. Und wenn man eine Karriere als Richterin machen will, ist man leider von diesen Strukturen abhängig – auch wenn sie einem nicht passen, man muss sich damit arrangieren.

Bessere Vereinbarkeit ist auch für Kägi-Diener zwingend, hier gäbe es noch viel Aufholbedarf. Sie erzählt von einem Fall aus dem Kanton St. Gallen: Ein Gerichtspräsident reichte vor einigen Jahren den Vorstoss ein, sein Pensum zu reduzieren und sich mit seiner Frau, das Präsidium zu teilen und selber mehr Familienaufgaben übernehmen zu können. Das Anliegen wurde abgelehnt mit der Begründung, dass die kantonale Verfassung ein solches Jobsharing nicht vorsehe. «Also ganz ehrlich, das fand ich lächerlich, weil vorgeschoben», sagt Kägi-Diener dazu. Manchmal suche man regelrecht die Gründe um eine bessere Vereinbarkeit zu verhindern, weil dies nicht ins Richter- und Männerbild passt.

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Frauenquote nötig?

Für Nina Ochsenbein braucht es nun zwingend eine Frauenquote an Schweizer Gerichten: «Gerichte müssen das Spiegelbild der Bevölkerung sein. Solange Frauen da noch untervertreten sind, wurde noch nicht genug unternommen». Und auch für Monika Roth ist klar: «Wenn es eine Parteienquote gibt, warum dann keine Frauenquote? Klar muss es die geben, vor allem an den erstinstanzlichen Gerichten». Eine Quote hilft und wäre zu begrüssen, findet auch Kägi-Diener, löse aber das strukturelle Problem nicht. Denn Quoten seien zielgerichtet und packten das Übel nicht an der Wurzel: Die geltenden Strukturen, so Kägi-Diener, würden damit zwar allenfalls variiert, aber nicht grundsätzlich verändert. Wenn es gelingen würde, über die Quote das Frauenbild ins Richterbild zu integrieren, also dass es für jedermann selbstverständlich ist, dass Frauen in den obersten Gerichten zu sitzen und zusätzlich auch in den Parteien gleichermassen wie Männer vertreten zu sein, dann wäre das Problem auch mit dem geltenden Wahlprozedere gelöst. «Aber das ist schon Zukunftsmusik, an die ich nicht glaube».

Nina Ochsenbein
Gerichte müssen das Spiegelbild der Bevölkerung sein. Solange Frauen da noch untervertreten sind, wurde noch nicht genug unternommen.

Die Frage, inwiefern das Geschlechts Gerichtsurteile beeinflusst, sei eine wahnsinnig vielschichtige, sagt Ochsenbein: «Es gibt zwar Studien aus den USA, die das untersuchen. Aber neben dem Geschlecht spielt ja auch der soziale Hintergrund eine Rolle, wo man sich politisch verordnet, und je nachdem sogar, was für eine Kindheit man erlebt hat». Fest steht jedoch: Zumindest am Bundesgericht haben Richterinnen einen kleineren Einfluss als Männer, wie eine Analyse des Tages-Anzeigers 2018 zeigte: Nur in 48 Prozent der Fälle ist eine Richterin involviert; Richter hingegen wirken in 88 Prozent der Fälle mit. Immerhin: Seit Ochsenbein 2019 die Daten für ihre Dissertation erhob, kam eine weitere Frau zum Bundesgericht hinzu. Und die Tendenz des Frauenanteils an Schweizer Gerichten ist steigend, Ochsenbein zeigt sich zuversichtlich: «Es geht in die richtige Richtung, einfach sehr langsam».