Am Abend «noch eben kurz» einen Bericht zu Ende schreiben, weil tagsüber im Büro zu viel los war, oder morgens früher aufstehen, um den Unterricht vorzubereiten … Szenen, die vielen von uns bekannt sind. Gleichzeitig bieten flexible Arbeitszeiten und Home Office Akademiker:innen wie mir viele Freiheiten. Mittwochnachmittag frei nehmen, um zum Geburtstag des Gottenkindes zu fahren? Kein Problem. Je nach Art der Arbeit und Talent zur Selbstorganisation profitiert eine Person mehr oder weniger von den neuen Freiheiten der Arbeitswelt. 

New Work, das bedeutet kurz gesagt: mehr Freiheit, Verantwortung, Sinnhaftigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz. Die obige Anekdote bestätigen viele Studien: Steigende Flexibilität und Agilität können einerseits zu hoher Zufriedenheit am Arbeitsplatz führen, andererseits aber auch zu Stress, erschwerter Abgrenzung und sogar zum Aufleben tradierter Rollenbilder. Trotzdem sind sie ein Privileg. Denn: Viele Arbeitnehmende sind von dieser neuen Art zu arbeiten ausgeschlossen. 

Jana Freundt
New Work ist von Leuten mit Bürojobs für Leute mit Bürojobs entwickelt worden. 

Systematische Befragungen der erwerbstätigen Schweizer Bevölkerung zeigen einen ungleichen Zugang zu selbstbestimmten Arbeitszeiten, partizipativen Entscheidungsprozessen oder Einfluss auf die Arbeitsmenge. Es zeigen sich Unterschiede bei Geschlecht, Bildungsniveau und Branche: 45 Prozent der Frauen und 31 Prozent der Männer geben an, nicht im Home Office zu arbeiten, weil dies in ihrem Job nicht möglich ist. Personen mit tertiärer Ausbildung profitieren doppelt so oft von flexiblen Arbeitszeiten, und Männer mehr als Frauen.

Vor allem im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Gastgewerbe ist die Arbeitszeit für viele Erwerbstätige vorgegeben. Schichtarbeit ist in diesen Branchen in den letzten Jahren vergleichsweise stark gestiegen. Männer profitieren im Durchschnitt von einer höheren Arbeitsautonomie als Frauen, genauso wie Personen mit Ausbildung auf Tertiärstufe und hochqualifiziertem Beruf. 

New Work ist vor allem von Leuten mit Bürojobs für Leute mit Bürojobs entwickelt worden. 

Frauen und Personen ohne Tertiärbildung profitieren weniger stark vom Trend Richtung selbstbestimmtes Arbeiten. Ein Grund: rigide Arbeitsstrukturen in «Frauenberufen»: Verkäuferinnen, Coiffeusen, Serviceangestellte, Bäckerinnen oder Betreuerinnen. Dazu kommt: In diesen Branchen verdienen Frauen trotz abgeschlossener Berufsausbildung oft weniger als 5000 Franken pro Monat. Arbeiten mit einem Tieflohn ist stark geschlechtsabhängig. «The more obviously one’s work benefits other people, the less one is likely to be paid for it» schreibt David Graeber. Verkürzt übersetzt: «Je mehr ein Job anderen Menschen hilft, desto schlechter ist er bezahlt.» 

In Anbetracht der grossen Unterschiede bei der Flexibilisierung und Partizipation sprechen einige Expert:innen von einer drohenden Polarisierung von Arbeit. Welche Auswirkungen hat die Verbreitung von New Work auf Gruppen, die kaum davon profitieren können? Entwickeln wir uns hin zu einer egalitären und freien Arbeitsorganisation für alle oder hin zu einer neuen Ungleichheit und Spaltung am Arbeitsmarkt? 

Jana Freundt
Es wird Zeit, dass wir in der Entwicklung von neuen Arbeitswelten die Perspektiven von allen Frauen mitdenken.

Was dringend nötig ist: eine steigende gesellschaftliche Wertschätzung der Dienstleistungsberufe von Frauen. Die Pflege einer Person wird auch in Zukunft gleich viel Zeit und Aufmerksamkeit erfordern. Produktivitätssteigerungen durch technologischen Fortschritt sind in diesen Berufen weder realistisch noch wünschenswert. Spätestens seit der Verbreitung von Chat GPT zeigt sich:

Während Chat GPT bald meine Kolumne wird schreiben können, scheinen Dienstleistungen wie Haare schneiden und Kranke pflegen weniger einfach durch technologischen Fortschritt zu ersetzen. 

Wie kann also die Zukunft der Arbeitswelt aussehen? Vielleicht würde eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ideen des Begründers der New-Work-Bewegung, Frithjof Bergmann, helfen. Er sah einen Ausgleich von Erwerbsarbeit, unbezahlter Arbeit und freiwilligem Engagement als erfüllend. Es wird Zeit, dass wir in der Entwicklung von neuen Arbeitswelten die Perspektiven von allen Frauen mitdenken, marginalisierte Gruppen berücksichtigen und Konzepte entwickeln, die insbesondere den Berufsgruppen mit den belastendsten Arbeitsbedingungen zugutekommen.