Melchior Lengsfeld kommt für das Interview direkt von einem Termin in Bern ins Büro von Helvetas in Zürich. Falls er in Eile ist, merkt man es ihm nicht an. Er ist der Geschäftsleiter von Helvetas, einer Schweizer Organisation für Entwicklungszusammenarbeit. 

In den Männerfragen beantwortet Lengsfeld Fragen, welche sonst nur Frauen gestellt werden. Er spricht darüber, warum Armut weiblich ist, wie er mit Kritik zu seinem Äusseren umgeht und warum er es gewagt hat, als Mann in einer weiblichen Domäne Karriere zu machen.

Sie sind Geschäftsleiter von Helvetas. Gäbe es auf der Welt weniger Armut, wenn die Weltordnung von Frauen statt Männern dominiert würde?

Wahrscheinlich schon. Wenn man sich anschaut, wie viele Männer heute autoritäre Fantasien ausleben und dabei von anderen Männern gestützt werden … Unsere Welt wäre friedlicher, wenn Frauen mehr zu sagen hätten. Es sind zwar nicht alle Frauen friedlicher als Männer, in der Tendenz aber schon.

Helvetas leistet Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Was hat Sie in dieses Themenfeld verschlagen?

Ich war damals nach der Schule mit einem Freund in Zentralamerika. Als ich die dortigen Lebensbedingungen sah, merkte ich, dass mich das Thema bewegt. Ich will vor Ort etwas beitragen und nicht nur beobachten. 

Es sind doch vor allem Frauen, die sich für soziale Themen engagieren. Ist das nicht ein bisschen zu schwierig für Sie als Mann?

Sich für eine positive Veränderung auf der Welt einzusetzen ist nicht männlich oder weiblich. Ich habe es als Mann nie schwierig gefunden. Früher war die Entwicklungszusammenarbeit ein männerdominierter Sektor, heute arbeiten mehr Frauen in diesem Bereich.

Bekommt Helvetas mehr Spenden von Männern oder von Frauen? 

Mehr von Frauen. Bei sozialem Engagement fühlen sich Frauen generell mehr angesprochen. Aber natürlich unterstützen uns auch viele Männer. Einen Beitrag an eine bessere Welt zu leisten ist nicht etwas, das nur Frauen oder nur Männer interessiert, sondern ein menschliches Anliegen.

Melchior Lengsfeld
Frauen geben ihr Einkommen typischerweise für die Familie aus.

Spenden Sie selber auch?

Ja klar. Es ist toll zu sehen, was man ermöglichen kann. Schweizer:innen sind sehr grosszügig mit Spenden.

Sind weltweit mehr Männer oder mehr Frauen von Armut betroffen?

Es sind mehr Frauen von Armut betroffen. Frauen geben ihr Einkommen typischerweise für die Familie aus, zum Beispiel für Nahrung, Gesundheitskosten oder Schuluniformen für die Kinder. Männer kaufen sich eher ein Motorrad oder gehen mit Freunden trinken. Man kann diese Tendenz in vielen Gesellschaften beobachten. Wir fördern deshalb auch spezifisch Chancen für Frauen und Mädchen.

Was für Projekte sind das genau?

In Äthiopien oder Nepal zum Beispiel unterstützen wir junge Frauen dabei, einen gut bezahlten Beruf zu wählen, etwa Malerin oder Schreinerin. Zudem fördern wir Kleinunternehmerinnen. In anderen Ländern – wie Guatemala und Tansania – vermitteln wir Wissen, wie sich Frauen politisch engagieren und sich Gehör verschaffen können, beispielsweise durch eine Wahl in den Gemeinderat. Wichtig ist auch, bei den Männern Verständnis dafür zu schaffen, weshalb alle von einer stärkeren Beteiligung der Frauen im wirtschaftlichen und politischen Leben profitieren.

Können Sie als Mann die Dimension der Benachteiligung oder Diskriminierung von Frauen und Mädchen wirklich erfassen?

Sicher viel schlechter als Frauen. Bei den Themen, bei denen es um Frauen und Mädchen geht, müssen deshalb immer Frauen im Team sein. Manche Themen sind schambehaftet. Da ist es einfacher, unter Frauen zu reden. Das Gleiche gilt auch für Männer. 

Helvetas will mit ihren Projekten etwas verändern und trägt eine entsprechende Verantwortung. Fragen Sie sich manchmal, ob Sie als Geschäftsleiter dieser Verantwortung und den Erwartungen gerecht werden können?

Ehrlich gesagt: nein. Denn es geht um Teamwork, und die Umsetzung liegt bei den Länderteams, und somit auch die operative Verantwortung. Als ich damals selber vor Ort arbeitete, spürte ich diesbezüglich mehr Druck. In meiner jetzigen Rolle als Geschäftsleiter bin ich für strategische Entscheidungen zuständig und stelle sicher, dass wir schnell merken, wenn etwas nicht gut läuft. 

Sind Sie selbst auch in den Ländern vor Ort präsent? 

Ich habe mehrere Jahre lang in Indien, Mozambique und Mali gearbeitet. Seit meine Familie und ich zurück in der Schweiz sind, reise ich drei bis vier Mal pro Jahr, um unsere Projektstandorte zu besuchen. 

Trauen Sie sich das zu, als Mann in diesen Ländern zu arbeiten?

Bei manchen Themen braucht es Fingerspitzengefühl. Gute Entwicklungsarbeit stellt immer auch Machtverhältnisse in Frage: Wie ist Einkommen verteilt, wer hat nichts zu sagen? 

Glauben Sie, dass Sie als Mann glaubwürdig auftreten?

Ich selber glaube nicht, dass man als Mann glaubwürdiger ist, denn Glaubwürdigkeit sollte auf Erfahrung und Kompetenz beruhen. Ich habe aber schon erlebt, dass ich es als Mann in einer Männergruppe einfacher habe als eine Frau. Oder dass einer Frau, die aus dem globalen Süden kommt, weniger zugehört wird als mir als weissem Mann, obwohl sie viel mehr zum Thema weiss. Gegen solche Stereotypen müssen wir kämpfen. 

Kleiden Sie sich anders, je nachdem, in welchem Land oder mit welchen Leuten Sie unterwegs sind?

Wenn ich ein Ministerium besuche, trage ich einen Anzug. Das wird erwartet und ist eine Art von institutionellem Respekt. Ansonsten trage ich die gleiche Kleidung, wie wenn ich in Zürich unterwegs bin. 

Heisst das, Sie müssen sich nicht speziell bedecken?

Das ist genau so eine Frage, die man einer Frau stellen würde, oder? (Schmunzelt.) Beruflich trage ich sowieso nie kurze Hosen. Gerade im Ausland würde das als Respektlosigkeit verstanden. Es ist wichtig, auf kulturelle Normen Rücksicht zu nehmen. Die gibt es nicht nur im Ausland, sondern auch bei uns.

Melchior Lengsfeld
Das Gefährlichste an unserer Arbeit sind die langen Autofahrten auf schlechten Strassen. 

Wie reagieren Sie, wenn Menschen sich unangebracht zu Ihrem Aussehen äussern?

Das ist mir noch nie passiert.

Treffen Sie Vorkehrungen für Ihre persönliche Sicherheit, wenn Sie im Ausland sind für Helvetas?

Auf jeden Fall. In Ländern mit hoher Kriminalität sollte man in gewissen Städten abends nicht alleine unterwegs sein, sondern in kleinen Gruppen. Das Gefährlichste an unserer Arbeit sind aber die langen Autofahrten auf schlechten Strassen. 

Warum?

Das Unfallrisiko ist gross, und meist liegt das nächste Spital einige Autostunden weit entfernt. Ambulanzen gibt es kaum. Für uns heisst das: langsam und defensiv fahren.

Sind Sie schon mal sexuell belästigt worden?

Sexuell belästigt wurde ich noch nie. Ich bin schon überfallen worden, als ich abends unterwegs war. Eine sexuelle Dimension hatte es nicht. 

Männer sind ja Sensibelchen. Belasten Sie die Themen, zu denen Sie sich mit Helvetas einsetzen, emotional?

Auf jeden Fall. Im letzten Jahr hat die Schweiz die Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Es belastet mich, dass deswegen Hunderttausende von Kindern weniger Chancen haben im Leben. Vor allem, weil ich weiss, wie einfach und unkompliziert die Lösungen wären.

Um wie viel wurden die Gelder gekürzt?

Bis 2028 kürzt die Schweiz 430 Millionen Franken aus der Entwicklungszusammenarbeit. Noch einschneidender ist, dass fast ein Viertel der Entwicklungsgelder in die Unterstützung der Ukraine verschoben wurde. Wir müssen die Ukraine auf jeden Fall unterstützen – aber nicht zulasten der ärmsten Menschen dieser Welt.

Können Sie sich mental gut von Ihrer Arbeit abgrenzen?

Früher war das ganz einfach. Wenn ich nach Hause kam und meine vier Kinder auf mich zurannten, war das direkt eine Abgrenzung von der Arbeitswelt. Jetzt sind meine Kinder grösser, und ich muss meine mentalen Pausen bewusster gestalten. Die Natur, meine Freunde und Gitarre spielen geben mir Energie.

Stichwort Kinder: Sie haben vier Kinder und sind Geschäftsleiter. Wie haben Sie neben der Familie auch Karriere gemacht?

Als die Kinder klein waren, war das besonders schwierig. Meine Frau hat viel mehr von der Erziehungsarbeit übernommen und den Haushalt geschmissen. Ich habe versucht, so viel wie möglich mitzumachen, am Abend und am Wochenende. Rückblickend war das klar ungleich aufgeteilt. Viele meiner jungen Kolleg:innen machen das heute viel besser. 

Wie viele Monate haben Sie die Erwerbsarbeit nach der Geburt Ihrer Kinder ausgesetzt?

Ich habe nur Wochen ausgesetzt, nicht Monate. Helvetas ermöglichte mir, länger in der Schweiz zu bleiben, trotz meiner Arbeit im Ausland.

Aha, also haben Sie einfach Ihr Arbeitspensum reduziert?

Das Pensum habe ich nie reduziert. Ich habe Vaterschaftsurlaub genommen und auch Ferien, damit wir gemeinsame Zeit hatten. Aber Helvetas war mir immer sehr wichtig, auch nebst der Familie.

Aber … wer passte dann auf die Kinder auf?

Meine Frau. Sie hat eine ähnliche Ausbildung wie ich. Als die Kinder klein waren, war sie mehrheitlich zu Hause. Daneben hat sie selbstständig in einem kleinen Pensum als Konsulentin gearbeitet.

Hoppla, Ihre Frau hat für Sie auf ihre eigene Karriere verzichtet? 

Ja, die Kinderpause hat ihre Karrieremöglichkeiten mehr beeinträchtigt, als wir das damals realisierten. Als ich Geschäftsleiter in Zürich wurde und wir noch zwei weitere Kinder bekamen, merkten wir, wie schwierig es nur schon war, Krippenplätze zu finden. 

So, das wars. Wie wars für Sie?

Es war ein angenehmer Ton. Ich dachte, Sie fragen noch schärfer. (Lacht.)