In der ersten Woche ihres neuen Jobs schrieb Tina* ihrem Chef: «Bist du wütend auf mich?» Er hatte in seiner letzten Nachricht schliesslich keine Emojis verwendet.

Tinas Chef war nicht wütend auf sie. Sie arbeitet heute in einem Umfeld, das psychische Gesundheit gross schreibt. Hier wird sie nicht ständig kontrolliert, nicht angeschrien, ihre Expertise wird ihr nicht abgesprochen. Hier kann sie sich entfalten. Aber das musste Tina wieder neu lernen: Zwei Monate im Sommer 2020 hatten ausgereicht, um ihr ein Trauma zu verpassen, aus dem sie sich zuerst wieder herauskämpfen musste.

Tina
Schon an meinem ersten Arbeitstag sagte mir mein Bauchgefühl: ‘Hier bleibst du nicht lange, und du wirst wegen ihm kündigen.’

Tina arbeitet als Videoproduzentin, Social-Media-Managerin und Content-Producerin. Sie ist gewieft, klug, aufgeschlossen, hat wache Augen und ist nicht auf den Mund gefallen. Die junge Frau Mitte Zwanzig fängt kurz vor der Coronapandemie einen Job in einem Start-up an, die einzige andere Frau ist ihre Vorgängerin. Diese warnt Tina vor ihrem Vorgesetzten. Er sei ein Lieber, könne aber auch mal laut werden. «Wenn er mich anschreit, dann kündige ich», schwört sich Tina.

«Schon an meinem ersten Arbeitstag sagte mir mein Bauchgefühl: ‹Hier bleibst du nicht lange, und du wirst wegen ihm kündigen›», erzählt Tina. Sie ist sorgfältig geschminkt und trägt für den Zoom-Call ein Headset, das sie so professionell aussehen lässt, wie sie über ihre Arbeit spricht. Man merkt ihr die Leidenschaft für den Job an, Tina sagt von sich, sie sei ein Workaholic, arbeite gerne viel und sei grundsätzlich stolz auf ihre Ergebnisse.

Szenenwechsel.

Das erste Krisengespräch zwischen Fabienne* und ihrer Kollegin fand vier Monate nach ihrem ersten Arbeitstag statt. Fabienne war damals Anfang 20. Es war ihr erster Job nach dem Studium, in ihrer Abteilung war man zu dritt. Fabienne hatte zwar am wenigsten Arbeitserfahrung, dafür die qualifizierteste Ausbildung im Rucksack.

«Ich brauchte lange, um mir wirklich einzugestehen, dass ich gemobbt werde», erzählt sie. Was die Arbeit anging, wurde Fabienne von ihrer Kollegin nicht gemieden. Man kam zusammen aus, böse Worte oder gar Behinderung der Abläufe gab es nie. «Es war viel subtiler, das hat es so schwierig gemacht, den Finger draufzulegen», sagt Fabienne.

Ihre Kollegin begrüsste sie morgens wortkarg, die dritte Mitarbeitende fragte sie im Gegensatz dazu ausführlich nach deren Wochenende. Zur gemeinsamen Mittagspause lud sie Fabienne nie ein, die ganze restliche Abteilung jedoch schon. Die Berichte, die die drei Frauen über ihre Arbeit nach dem Vier-Augen-Prinzip verfassen mussten, gab sie Fabienne nie zum Gegenlesen.

Regula Mullis Tönz
Zusammengefasst bezeichnet Mobbing ein feindliches, destruktives Verhalten.

Was Tina und Fabienne erlebten, läuft unter Mobbing: per Definition eine Verletzung der persönlichen Integrität. Das heisst, eine Person wird von Kolleg:innen oder Vorgesetzten physisch oder psychischen verletzt, schikaniert und daran gehindert, ihre Arbeit zu machen und in einem Team zu bestehen. «Zusammengefasst bezeichnet Mobbing ein feindliches, destruktives Verhalten», sagt Regula Mullis Tönz.

Die Rechtsanwältin ist Mitglied des Netzwerks Arbeit und Konflikt und hat zahlreiche Fälle aus diesem Bereich begleitet. Sie sagt: «Wer Mobbing erlebt, erlebt in der Regel Angriffe auf die Möglichkeit, sich zu äussern, auf die sozialen Beziehungen, auf das eigene Ansehen, die berufliche Qualität und die eigene Gesundheit. So definiert es der Mobbingforscher und Arbeitspsychologe Heinz Leymann.» Was abstrakt klingt, lässt sich anhand von Beispielen verdeutlichen.

Typische Mobbingstrategien sind etwa:

  • Unterbrechen beim Reden
  • Ständiges Kritisieren
  • Isolieren oder bewusstes Ausgrenzen
  • Unterbinden von sozialem Austausch
  • Verbreiten von Gerüchten über eine Person
  • Sich über jemanden lustig machen
  • Zurückhalten von wichtigen Informationen
  • Erteilen von Aufgaben, die sinnlos sind oder jemanden überfordern
  • Mündliche oder schriftliche Drohungen
  • Handgreiflichkeiten / Sexuelle Handgreiflichkeiten.

Frauen sind deutlich häufiger Opfer von Mobbing als Männer

Die Beispiele sind sehr konkret. Rechtlich ist die Lage jedoch etwas anders. Hier gibt es keine klare Definition: Das Bundesgericht sieht Mobbing als ein «systematisches, feindliches, über eine längere Zeit anhaltendes Verhalten, mit dem Ziel, eine Person auszugrenzen und/oder von ihrem Arbeitsplatz zu entfernen».

Auch die Datenlage zum Thema ist relativ dünn. So hat das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco zuletzt vor über 20 (!) Jahren eine Studie zum Thema durchgeführt. Damals gaben von 3000 Befragten nur knapp 8 Prozent an, dass sie schon Mobbing erlebt hatten.

Heute sieht es anders aus. Eine repräsentative Befragung aus dem Jahr 2016 kommt zum Schluss, dass mindestens 20 Prozent der Arbeitnehmer:innen Mobbingerfahrungen gemacht haben. Eine Studie, die den gesamten deutschsprachigen Raum untersucht, weist noch höhere Zahlen aus: 32 Prozent der Befragten haben Mobbing erlebt. Frauen (38%) sind dabei deutlich häufiger von Mobbing betroffen als Männer (25%).

Mobbing muss von Betroffenen bewiesen werden – und das ist schwierig

Wer Mobbing erlebt, ist von Gesetzes wegen nicht automatisch geschützt. Im Gegenteil: Jede:r ist selbst für sich verantwortlich. «Rechtlich gesehen ist die betroffene Person in der Beweispflicht. Sie muss nachweisen, dass Mobbing stattgefunden hat», erklärt Mullis Tönz. Und das ist in vielen Fällen schwierig. Die Vorfälle lassen sich nicht immer belegen, auch weil sie oft unter vier Augen stattfinden. Es fehlen Dokumentation und Zeugen.

Regula Mullis Tönz
Je früher man aktiv wird, umso eher kann man verhindern, dass aus solchen Konflikten Mobbingsituationen entstehen.

Das subjektive Empfinden spielt eine Rolle. Die Betroffenen schweigen oft lange. Aus Scham, aus Angst, aus Unwissenheit oder weil ihnen die Energie fehlt, sich zu wehren. Ihr Schweigen brechen viele erst dann, wenn die Situation nicht mehr auszuhalten ist, sie die Stelle wechseln oder entlassen werden. So vergehen manchmal Jahre. All dies erschwert Verfahren und Untersuchungen, wie Mullis Tönz aus Erfahrung weiss: «Bei Untersuchungen kommen wir aus rechtlichen Überlegungen selten zum Schluss, dass eine Mobbingsituation vorliegt. Obwohl wir nachvollziehen können, dass sich eine Person in ihrem subjektiven Empfinden gemobbt fühlt.»

Die Anwältin appelliert deshalb an Betroffene, sich möglichst früh zu melden – auch wenn es erst um einen Konflikt oder um Unstimmigkeiten geht. «Je früher man aktiv wird, umso eher kann man verhindern, dass aus solchen Konflikten Mobbingsituationen entstehen.» Je nach Situation empfiehlt sie, das Problem direkt mit der betreffenden Person zu klären, einen Vorgesetzten aufzusuchen, sich an die Personalabteilung zu wenden oder Rat bei einer Fachstelle zu suchen (siehe Tipps). Auch das Festhalten der Ereignisse in einem Mobbingtagebuch ist wichtig. «Wenn Vorfälle oder Aussagen schriftlich mit Datum festgehalten wurden, hilft das zur Übersicht und unterstützt die Glaubwürdigkeit.»

Tina
Dieses Brainwashing und das ambivalente Verhalten haben bei mir einen Zustand der dauerhaften Angst ausgelöst.

Nachweisen konnte Tina das Fehlverhalten ihres Chefs nicht, weil sie es nicht dokumentierte – es fand oft unter vier Augen statt. Ihr Chef zitiert sie ab Tag eins täglich in sein Büro, kritisiert ihre Arbeit ohne für Tina ersichtliche Gründe und herrscht sie an: «Woran arbeitest du überhaupt die ganze Zeit? Was machst du den ganzen Tag?» Stunden zuvor überschüttet er sie mit Lobeshymnen für ihre Arbeit im Chat mit allen Team-Mitgliedern.

«Dieses Brainwashing und das ambivalente Verhalten haben bei mir einen Zustand der dauerhaften Angst ausgelöst», erzählt Tina. Sie beschreibt, wie sie nach wenigen Wochen mit Bauchweh zur Arbeit ging, nach der Arbeit kaum noch abschalten konnte und sich schliesslich fragte: Bin ich wirklich eine gute Produzentin?

Sie entschliesst sich, ihren Chef zu konfrontieren. Sagt ihm, dass sein Verhalten sie irritiert, verunsichert und verletzt. Und stösst auf Unverständnis. Es sei normal, dass Vorgesetzte ihre Angestellten kritisieren, der Ton sei nun einmal «rough» im Start-up-Business.

Ihr Chef vergreift sich aber nicht nur im Ton, er überschreitet auch andere Grenzen: Einmal muss Tina eine ganze Nacht lang in ihrem Auto verbringen, weil sie eine Installation des Unternehmens beaufsichtigen muss. Sie nimmt ihren Freund mit, alleine ist ihr unwohl. Ihr Chef fragt sie tags darauf, ob das Paar im Auto zusammen Sex hatte.

Endgültig gereicht hat es Tina am Abend vor einem wichtigen Apéro des Unternehmens: Sie schnitt gleichzeitig fünf Videos und bereitete Inhalte für Social Media vor, damit alles rechtzeitig fertig würde. «Ich arbeite gerne und gut unter Druck, ich bin schnell und exakt. Bisher wurde ich immer für genau diese Qualitäten gelobt», erzählt sie. Diesmal sollte es anders sein.

Ihr Chef ruft sie an: «Arbeitest du überhaupt etwas? Wir müssen hier arbeiten! Du bist zu langsam!» Tina bricht zusammen, weint, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Die vergangenen zwei Monate Stress, aufgestaut, explodieren. Ihr Chef sagt in den Hörer: «Du bist halt schon ein zartes Pflänzli» und legt auf. Am Apéro am nächsten Tag ignoriert er sie.

Fabienne
Es hiess immer: ‘Sie ist halt einfach so, ein bisschen trocken.’

Einen Tag später: Wieder ruft der Chef an, wieder erledigt Tina ihre Arbeit im Rekordtempo, wieder ist es nicht genug. Warum sie nicht mehr Bilder vom Anlass auf Instagram gepostet habe, will er wissen. Er sagt ihr, dass er jetzt sofort noch ein Video brauche für Social Media. Es ist 18 Uhr, kurz vor Feierabend – und Tina hat ausserdem eigentlich frei. Es sei ihm scheissegal, was abgemacht wurde, er brauche jetzt das Material, schreit ihr Chef in den Hörer.

Auch Fabienne fängt an, sich zu wehren und sucht mit anderen Kolleg:innen ausserhalb ihrer Abteilung vorab das Gespräch. Unterstützung, auf die sie hofft, findet sie keine: «Es hiess immer: Sie ist halt einfach so, ein bisschen trocken», erzählt Fabienne. Nach wenigen Wochen mochte Fabienne am Morgen nicht mehr aufstehen, die Leidenschaft für ihre Arbeit litt.

Sie bat zuerst ihre Kollegin alleine um ein Gespräch: «Ich sagte ihr, dass ich das Gefühl habe, sie meide mich. Dass sie mir absichtlich keine Arbeit abgebe.» Fabienne stiess auf Ablehnung. Man müsse sich nicht persönlich mögen, sondern nur zusammenarbeiten, war die Antwort.

Vier Stunden später, abends um elf, poppte eine Benachrichtigung auf ihrem Handy auf: eine Nachricht im Arbeits-Chat – auch Leute, die gar nichts von Fabiennes Situation wussten, konnten mitlesen. Ihre Kollegin schreibt, es habe sich ergeben, dass die «Lage mit Fabienne so nicht funktioniere» und dass die Vorgesetzten darüber informiert seien. Man wolle nun in einem gemeinsamen Gespräch eine Lösung finden.

Fabienne arbeitete die folgenden zwei Tage nicht im Büro, sondern ausserhalb: «Ich war einerseits froh, dass ich Abstand hatte. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass ich nach diesen zwei Tagen gar niemanden mehr habe, der zu mir steht. Mit diesem Gefühl musste ich dann zu diesem Gespräch mit meiner Kollegin und unseren Vorgesetzten.»

Aber auch dieses vermeintlich klärende Gespräch blieb ohne Erfolg. Man sagte Fabienne, sie habe wohl einfach zu viele ungelöste persönliche Blockaden und Probleme, sie solle lieber daran arbeiten, diese aufzulösen: «Sei nicht so empfindlich!» Sie stelle sich ständig gegen das Team, das könne nicht akzeptiert werden. Konsequenzen für ihre Kollegin hatte das Gespräch keine. Für Fabienne schon: Ihr Körper reagiert in den folgenden Wochen immer stärker. Sie muss viel weinen, ist fragil, und wenn sie an die Arbeit denkt, formt sich ein schwerer Klumpen im Bauch.

Die Folgen von Mobbing sind für Betroffene häufig schwerwiegend und sie halten manchmal lange an – auch dann noch, wenn sich die Situation bereits verändert hat. Das Seco nennt in einer Informationsbroschüre für Arbeitgeber:innen als Symptome unter anderem Kopfschmerzen, Angespanntheit, Nervosität, Schlaf-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Depressionen. «Untersuchungen haben gezeigt, dass Mobbingopfer Symptome aufweisen können, die vergleichbar sind mit denjenigen einer posttraumatischen Belastungsstörung», heisst es in der Broschüre weiter. Auch das Verhalten der Betroffenen kann sich aufgrund der Belastung verändern: Viele verlieren ihr Selbstvertrauen, zweifeln an sich oder ziehen sich zurück. Auch Gereiztheit, Feindseligkeit, Passivität und der Verlust der Motivation sind häufige Folgen. Zudem kommt es in solchen Fällen häufig zu einem Stellenwechsel.

Solche Erlebnisse zu verarbeiten, ist nicht einfach. Oft schaffen es Betroffene nicht alleine. Sowohl das Seco wie auch Mullis Tönz raten deshalb, sich nach Möglichkeit psychlogische Hilfe zu holen, durch einen Coach oder eine:n Psycholog:in. Mögliche Anlaufstellen sind unter anderem die kantonalen Fachstelle für Gleichstellungsfragen, Gewerkschaften oder das Netzwerk Arbeit und Konflikt.

*Namen der Redaktion bekannt

Teil zwei unserer Serie zum Thema Mobbing am Arbeitsplatz erscheint am kommenden Dienstag. Darin geht es um die Pflichten von Arbeitgeber:innen und darum, wie du dich wehren kannst, wenn du von Mobbing betroffen bist.