Jede dritte Frau in der Schweiz wurde schon mindestens einmal am Arbeitsplatz sexuell belästigt. Zu diesem Schluss kam eine repräsentative Studie im Jahr 2008. Das war noch vor #MeToo, das war noch, bevor sexuelle Belästigung ein breit diskutiertes Thema wurde. Leider hat sich nichts getan. Auch eine Studie von 2019 kam zum selben Schluss: Noch immer erfährt jede dritte Frau sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Und ich persönlich habe unzählige Freundinnen, die mir von grenzverletzenden Kollegen erzählen, von diesem sogenannt «offenen Geheimnis»: Jede:r im Betrieb weiss es, niemand tut etwas.

So müssen sich wohl sehr viele CEOs, Vorgesetzte und Angestellte die Frage gefallen lassen: Tue ich genug, um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu verhindern?

Eine Frau erzählte mir gestern, dass sie einen neuen Arbeitskollegen habe. Er habe früher an einem anderen Standort des Betriebes gearbeitet und sei nun zu ihnen versetzt worden, da er am früheren Standort eine Mitarbeiterin sexuell belästigt habe. Das Unternehmen hat immerhin gehandelt: Es hat die Beschwerde der belästigten Mitarbeiterin ernst genommen und mit seiner Versetzung dafür gesorgt, dass sie in Zukunft geschützt ist. Leider ist dieses Vorgehen immer noch alles andere als selbstverständlich. Ich habe bei der Opferhilfe sehr viele Frauen begleitet, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz offengelegt haben und nicht ernst genommen wurden. Und schliesslich keinen anderen Ausweg sahen, als den Betrieb zu verlassen.

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Sexismus, Mobbing, Lohnungleichheit am Arbeitsplatz? Absolute No-Gos, dennoch nehmen es viele Frauen hin. Das darf nicht sein. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Rechtsschutzversicherung von Frauen für Frauen. Wehr dich.

Ich möchte deshalb den Fokus auf diejenigen Betriebe legen, die meinen, sie schützten ihre Mitarbeitenden ausreichend. Vielleicht, indem sie die Belästiger konfrontieren, sie versetzen oder ihnen gar kündigen. Das mag zwar löblich sein; wenn aber nichts darüber hinaus unternommen wird, verfehlt diese Massnahme oft das Ziel. Das Problem ist nur kurzfristig gelöst, längerfristig bleibt es aber bestehen. Es reicht nicht, einen Belästiger loszuwerden, solange man nichts an der Betriebskultur ändert. Die Formel ist einfach: In einer gesunden Betriebskultur können Belästiger nicht walten, in einer toxischen Betriebskultur schon. Toxische Betriebskulturen sind im Übrigen nicht einzelne Männer, die sexuell belästigen, sondern alle Mitarbeitenden, die zu dieser Kultur beitragen, indem sie schweigen, wegschauen oder zuschauen, statt zu intervenieren. Stellt sich die Frage: Wie ist die Kultur an meinem Arbeitsplatz?

Agota Lavoyer
Toxische Betriebskulturen sind im Übrigen nicht einzelne Männer, die sexuell belästigen, sondern alle Mitarbeitenden, die zu dieser Kultur beitragen, indem sie schweigen, wegschauen oder zuschauen, statt zu intervenieren. Stellt sich die Frage: wie ist die Kultur an meinem Arbeitsplatz?

Zuallererst müssen wir uns zwei Dinge vor Augen führen:

Erstens: Sexuelle Belästigung ist kein misslungener Flirt oder ein Missverständnis und hat höchst selten mit sexuellen Begierden zu tun. Sexuelle Belästigung ist eine Machtdemonstration. Eine «Ich tue es, weil ich es kann»- und eine «Es ist mir egal, wie es dir dabei geht»-Demonstration. Sexuelle Belästigung ist systematisch missbräuchliches Verhalten von Menschen in Machtpositionen. Und da es am Arbeitsplatz sehr schnell um Macht, Hierarchien und Abhängigkeiten geht, ist sexuelle Belästigung nie harmlos. Apropos: Hast du dich auch schon mal gefragt, wieso es «Sie hat sich hochgeschlafen» und nicht «Er ignorierte ihre Expertise und sah in ihr nur ein Sexobjekt» heisst? Aber zurück zum eigentlichen Thema. Um möglichen opferabwertenden Gedanken vorzubeugen, füge ich gerne noch an: Machtmissbrauch kann man nicht provozieren. Weder durch bestimmtes Verhalten noch durch Kleidung.

Zweitens: Zu häufig liegt der Fokus auf der Frage, ob das, was eine betroffene Person meldet, überhaupt sexuelle Belästigung sei. Zu oft wird der Belästiger verteidigt, weil «Er hat es ja sicher nicht so gemeint». Lass dir gesagt sein: Es spielt eigentlich keine Rolle, wie er es gemeint hat. Solange man sich nämlich darauf konzentriert, ob hinter einer Aussage oder einer Handlung belästigende Absicht war oder nicht, lenkt man von der viel zentraleren Frage ab: Hat sich das Gegenüber belästigt gefühlt oder nicht? Sexuelle Belästigung fängt dort an, wo sich die betroffene Person belästigt fühlt. Ganz schwierig wird es, wenn die betroffene Person nicht ausweichen kann. Sie ist auf den Job angewiesen und kann nicht einfach ihre Beziehung zu diesem Arbeitskollegen oder ihrem Chef abbrechen. Das wiederum gibt dem Belästiger Macht über sie. Und schon sind wir wieder bei den Abhängigkeiten, dem Machtmissbrauch und bei einer toxischen Betriebskultur.

Agota Lavoyer
Sexuelle Belästigung fängt dort an, wo sich die betroffene Person belästigt fühlt.

Vor dem Hintergrund dieser beiden Tatsachen nehmen wir die Betriebskultur unter die Lupe:

  • Interveniert jemand in meinem Betrieb, wenn in der Kaffeepause sexistische Sprüche fallen oder abwertende Bemerkungen über Frauenkörper gemacht werden (Sexismus ist der ideale Nährboden für sexuelle Belästigung)?
  • Wissen alle Mitarbeitenden, wohin sie sich wenden können, wenn sie sexuell belästigt werden?
  • Ist es für die Mitarbeitenden einfach, ihre Erfahrungen offenzulegen, oder wird es ihnen durch lange Wege und eine toxische Betriebskultur erschwert?
  • Wie wurde in der Vergangenheit mit Beschwerden zu sexueller Belästigung umgegangen, und was könnte dies für Auswirkungen auf Betroffene und Täter:innen haben?
  • Welche Massnahmen ergreift mein Betrieb, um sexueller Belästigung vorzubeugen?
  • Und was ist mein persönlicher Beitrag dazu?
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Meine Erfahrung ist, dass gerade in kleineren Betrieben oft definierte Abläufe fehlen, wie mit sexueller Belästigung umzugehen ist. In vielen Betrieben haben Verantwortliche zu wenig Kenntnisse über Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse und Machtmechanismen und darüber, was diese mit sexueller Belästigung zu tun haben. Wer Macht hat, ob formell oder informell, trägt Verantwortung. Im Bereich der sexuellen Belästigung lässt sich diese Verantwortung nicht einfach an das HR delegieren. Wir sind alle mitverantwortlich (und mit je mehr Macht, desto mehr), für ein Betriebsklima zu sorgen, das es Mitarbeitenden erschwert, sexuell belästigend zu sein, und es Betroffenen erleichtert, sexuelle Belästigung anzuprangern und sich Unterstützung zu holen. Das ist das Minimum, was Arbeitnehmende erwarten dürfen. Trägst du deinen Teil dazu bei?

Wenn du am Arbeitsplatz sexuell belästigt wirst, erhältst du bei der Opferhilfe und bei den Büros für Gleichstellung unentgeltliche professionelle Unterstützung. Einen Überblick über schweizweit alle kantonalen und städtischen Anlaufstellen, wie auch nützliche Tipps und Informationen, findest du bei belästigt.ch.