Sie fordern den Boykott von russischem Erdgas. Ganz schön mutig für einen Mann!

Es ist eine mutige Forderung, weil sie etwas infrage stellt, was bisher als garantiert galt. Solche Forderungen sind vor allem dann riskant, wenn die Möglichkeit besteht, dass sie erfüllt werden. Ich habe mir ganz ernsthaft die Frage gestellt, inwiefern es überhaupt möglich ist, russisches Erdgas zu boykottieren und was das ganz konkret heisst. Ich habe recherchiert und mit verschiedenen Fachpersonen gesprochen, nicht nur darüber, wie viel Gas wir aus Russland beziehen und wie wir diese Lücke füllen könnten. Mein Fazit ist: Wir sollten das russische Gas nicht einfach ersetzen, es braucht noch andere Lösungsansätze. Die Schweiz müsste auch sparen beim Gasverbrauch. Und überhaupt beim Energieverbrauch. Das geht nicht nur mit Verzicht, indem man die Raumtemperatur senkt, sondern auch automatisch mit moderner Regulierungstechnik. Ein bisschen wie die schwäbische Hausfrau eigentlich – sparsam und innovativ.

Woher kommt dieses geflügelte Wort eigentlich, «schwäbische Hausfrau»?

Haha, ja, gute Frage. Wahrscheinlich bekommt sie von ihrem Mann einfach zu wenig Taschengeld und muss darum extrem gut haushalten können.

Wie geht es Ihnen momentan so auf der emotionalen Ebene, macht Ihnen der Krieg in der Ukraine Angst?

Wenn man mich so direkt fragte, wie es mir geht, dann sagte ich die letzten Tage: persönlich gut. Aber das ist eigentlich eine falsche Antwort. Klar, ich lebe verglichen mit anderen Menschen immer noch in einem Paradies. Aber es stimmt eigentlich nicht, dass es mir gut geht. Gerade als Vater hat sich die Antwort auf diese Frage für mich ziemlich verändert.

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Inwiefern?

Ich bin ja ein sehr alter Vater mit 50, meine Tochter ist erst vier Jahre alt. Das war also ein sehr bewusster Entscheid. Ich hatte sehr lange keine Kinder gewollt, auch aus egoistischen Gründen: Ich  wusste, dass ich ohne Kinder viel mehr Zeit für mein politisches Engagement habe. Ich hätte vieles nicht machen können mit Kindern. Vor allem hatte ich auch den Vorsatz, wirklich in der Politik dabei zu sein – und dachte umgekehrt: Wenn ich Kinder habe, dann will ich auch präsent sein. Ich wollte nicht nur eine Initialzündung geben und mich dann verabschieden. Ich habe darum lange betont, man kann auch anderes hinterlassen; man kann auch einfach mehrere Apfelbäume pflanzen, ums mit Luther zu sagen – man muss nicht zwingend ein Kind haben. Heute ist das Vatersein etwas, das mich anders, persönlicher als früher motiviert. Aber auch anders deprimiert.

Anders deprimiert? Wie meinen Sie das?

Es ist jetzt April 2022, nimmt man an, dass meine Tochter 85 Jahre alt wird, dann lebt sie bis irgendwo um 2100 herum. Alles, was an Katastrophen kommt, was an Umwälzungen kommt, sowohl positiv als auch negativ – das ist ihr zukünftiges Leben. Auch der Krieg, die drohende neue Aufrüstungsspirale. Und insofern hat man natürlich eine grosse Verantwortung für ein solches Leben. Das ist sicherlich etwas, das mich ein wenig unter Druck setzt und nervös macht. Und manchmal deprimiert.

Wird Ihre Tochter einmal eine faire Altersvorsorge haben?

Ich habe lange selbst gesagt, dass ich für mich auch als Mann eigentlich nicht davon ausgehe, eine gute Altersvorsorge zu haben ... Aber auch das hat sich mittlerweile geändert. Die AHV wurde schon so oft totgerechnet. Aber sie war nie tot. Momentan wird so viel Geld vererbt wie noch nie, vor allem an die Generation der über 60-Jährigen. Wenn man dieses Geld gerechter verteilt, dann wird auch meine Tochter eine faire Vorsorge haben.

Balthasar Glättli
Ich hatte sehr lange keine Kinder gewollt, auch aus egoistischen Gründen: Ich wusste, dass ich ohne Kinder viel mehr Zeit für mein politisches Engagement habe.

Wird sie denn auch fairer bezahlt?

Ja, das denke ich. Ich hoffe im Kanton Zürich auf ein Ja zur Elternzeit am 25. Mai, damit es Schub gibt in der ganzen Schweiz und bald eine egalitäre Elternzeit von mindestens 18 Wochen eingeführt wird. Davon bin ich ein fast schon verbohrter Verfechter: eben aus Gründen der Gleichstellungspolitik. Ich habe es selber erlebt als Arbeitgeber, dass man diese Gedanken im Hinterkopf hat.

Welche Gedanken meinen Sie?

Auch wenn man nicht danach fragen darf, ob eine Frau Kinder haben will, schwingen diese Bedenken trotzdem irgendwie mit; wie eine Art negativer imaginärer Rucksack der jüngeren Bewerberinnen. Es ist vor allem in kleineren Betrieben ein Thema, weil dort die Herausforderungen grösser sind, wenn jemand für längere Zeit ausfällt. Ich habe das aber auch umgekehrt gemacht: Ich habe zum Beispiel nie jemanden angestellt, der noch eine offene Militärpflicht hatte. Eine egalitäre Elternzeit würde bedeuten, dass Männer und Frauen den gleichen imaginären Rucksack haben, was den Ausfall nach der Geburt angeht. Und man sieht ja, dass der Gender Pay Gap statistisch gesehen vor allem nach der Geburt einsetzt. Der Gender Pay Gap ist in dem Sinne eigentlich eine Geburtsstrafe.

Wie haben Sie das nach der Geburt Ihrer Tochter gemacht?

Ich war vier Wochen zu Hause. Wir von den Grünen haben ja die Initiative für eine Papizeit von vier Wochen unterstützt. Danach war ich aber quasi akut abwesender Vater, weil die erste Session stattfand. Da war ich von morgens spätestens um halb sieben bis mindestens um neun Uhr abends drei Wochen lang weg. Es war mir aber schon sehr wichtig, dass ich am Anfang diese Papizeit hatte, in der man sehr schnell für alles zuständig ist mit dem Kind. Das hilft schon, so ein «learning on the job» – das kann man ja nur machen, wenn man wirklich «on the job» ist. Nach der Session gab es später eine Phase, in der meine Frau wieder anfing zu arbeiten und ich quasi alleine zuständig war für unsere Tochter. Und als sie vier Monate alt war, kam sie in die Krippe. Wir haben seither unter der Woche einen Papitag und einen Mamitag, und das Wochenende versuchen wir zu jonglieren. In der Politik ist der Samstag ein etwas überfüllter Tag, da müssen wir schauen, dass wir aneinander vorbeikommen.

Balthasar Glättli
Der Gender Pay Gap ist in dem Sinne eigentlich eine Geburtsstrafe.

Wie organisieren Sie Ihre Zeit als Paar?

Ich habe eine persönliche Assistentin, die hat Zugriff auf meine persönliche Agenda und auf die von meiner Frau. Ich habe gemerkt, dass  etwa zwei Drittel der organisatorischen Herausforderungen familiäre Anliegen sind. Es ist – wenn nicht Corona herrscht – schwierig, dass wir zwei Abende in der Woche haben, an denen wir uns sehen. Diese Erkenntnis war ziemlich spannend für mich und auch ein bisschen entlarvend.

Eine Frau organisiert also Ihre Beziehung?

Haha, ja, aber nicht meine Frau! Für uns ist eine gewisse Ausgeglichenheit sehr wichtig, und das können wir momentan fast nur mit Hilfe von aussen stemmen. Es gibt beispielsweise keinen fixen Turnus, was die Betreuung unserer Tochter angeht – abgesehen vom Papi- und Mamitag. Die Aufteilung, wer sie in die Krippe bringt zum Beispiel, ist nicht jede Woche gleich. Aber es muss innerhalb von etwa zwei Wochen eine Ausgeglichenheit geben. Sonst sind irgendwann beide überlastet oder frustriert. Der Job meiner persönlichen Assistenz wird übrigens möglicherweise bald von einem Mann ausgeführt ...

Aber nur von einem, der nicht mehr ins Militär muss!

Genau. Zivildienst wäre aber okay.

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Macht es Ihnen zu schaffen, dass Ihre Partnerin mehr im Rampenlicht steht als Sie?

Ich merke es interessanterweise primär dann, wenn sie in Themenbereichen unterwegs ist, in denen ich früher stärker präsent war. Und das fuchst mich dann manchmal. Etwa beim Thema Digitalisierung, wo sie sich einen Namen erarbeitet hat auch als Speakerin, das war früher eines meiner Markenzeichen. Ich habe mich immer als ersten Piraten im Nationalrat bezeichnet, einfach mit grüner Fahne. Und bei solchen Punkten merke ich am ehesten, dass es eine Art Konkurrenz gibt. Aber sie ist oft in anderen Themengebieten als ich unterwegs, schon alleine von der Kommissionsarbeit her

Seit Sommer 2020 sind Sie der Nachfolger von Regula Rytz. Wie fühlt es sich an, in die Fussstapfen einer Frau zu treten?

Das sind grosse Fussstapfen, in die ich trete. Und ich glaube, dass sich viele Grüne gefragt haben, ohne dass sie es laut gesagt haben: Kann das ein Mann auch so gut wie eine Frau? Wir haben uns die Frauenförderung sehr stark auf die Fahne geschrieben. Deshalb musste ich mich immer wieder rechtfertigen, dass ich das auch kann.

Kann ein Mann denn überhaupt feministische Politik machen?

Ja, weil es um Macht geht. Und um ganz viele Rahmenbedingungen, die uns alle beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel die Elternzeit, ein sehr feministisches Anliegen, für das ich mich als Mann genauso einsetze. Ich fordere 18 Wochen für den gebärenden Elternteil und 18 Wochen für den nicht-gebärenden Teil. Allgemein macht man das in der Politik und bei politischen Forderungen viel zu selten, das Narrativ und die Rahmenbedingungen wirklich ändern.

Balthasar Glättli
Ich habe mich immer als ersten Piraten im Nationalrat bezeichnet, einfach mit grüner Fahne.

Was meinen Sie?

Es ist wichtig, dass man erkennt: Was wir als normal betrachten, ist ganz oft eine Ideologie. Eine Setzung, die einfach so stark verankert ist, dass wir sie als normal oder natürlich wahrnehmen. Nehmen wir als konkretes Beispiel nochmal die Elternzeit. Das gewohnte Narrativ ist, dass sich Frauen dafür einsetzen sollen, weil sie die Elternzeit brauchen. Aber ich als Mann kann genauso sagen: Ich weigere mich, den Frauen mehr Elternzeit zu geben – ich will gleich viel! Weil das den Frauen am meisten nützt. Oder: Ich als Mann will ein Recht auf Teilzeitarbeit und Karriere gleichzeitig! Auch als Mann. Wir müssen aufhören, feministische Politik als reine Frauenanliegen anzuschauen. Es ist das Anliegen einer gerechteren Gesellschaft.

An dieser Stelle wird unser Zoom-Gespräch kurz unterbrochen, weil Glättlis kleine Tochter zu ihm auf den Schoss kriecht. Er strahlt, kuschelt sie kurz und bittet sie noch um ein wenig Geduld. Sie gibt uns grosszügige zehn Minuten mehr Zeit.

Noch eine letzte Frage, bevor Sie Ihre Betreuungsaufgaben wieder wahrnehmen: Wie wichtig ist Ihnen Mode? Kaufen Sie als Präsident der Grünen nur nachhaltig ein?

(Kichert.) Ich bin gemäss den Leuten, die bei uns auf der Kommunikationsabteilung und mit Social Media arbeiten, immer noch zu wenig modebewusst. Und wenn ich dann mal versuche, irgend etwas Cooles und Nachhaltiges zu machen, merke ich, dass ich der Zeit völlig hinterher bin. Ein Beispiel: Ich habe diese Hose von Freitag gekauft, die nachhaltig und sogar kompostierbar ist. Das ist doch eigentlich eine gute Geschichte. (Hält ein Bein mit der Jeans in die Kamera) Aber: Als ich dann im Laden war, hiess es, dass es einen Rabatt gibt, weil Freitag aufhört, diese Jeans zu produzieren! Total hinterher bin ich bei der Mode, definitiv nicht Avantgarde, da habe ich noch Luft nach oben. Fast zu viel Slow Fashion, gewissermassen.