Von Vinyl-Platten und CDs zu Spotify und iTunes, von Videokassetten und DVDs zu Netflix und YouTube. Von Kleidern und Schmuck zu – Moment mal, wohin eigentlich? Es scheint, als hinke die Modeindustrie in Sachen Digitalisierung anderen Branchen hinterher. Jüngste Beispiele von digitalen Kollektionen von Modelabels und Unternehmen wie Burberry oder Nike zeigen jedoch, dass Digital Fashion mehr als ein kurzlebiger Trend ist. Dabei gehen virtuelle Fashion-Welten weit über den Unterhaltungsfaktor hinaus und bieten unausgeschöpfte Potenziale, den immensen CO2-Fussabdruck der Modeindustrie zu reduzieren. Trotzdem sind wir weit davon entfernt, uns Outfits zu streamen. Denn Digital Fashion bringt auch Herausforderungen mit sich.

Stefan Hauswiesner, Gründer und Geschäftsführer Reactive Reality
Wenn man den Anzug sowieso nur für sein virtuelles Ich benötigt, muss potenziell ein physischer Hugo-Boss-Anzug weniger produziert werden.

Wie sich im ersten Teil unserer Serie zu Digital Fashon gezeigt hat, beeinflussen nicht nur digitales Anprobieren und Designen die Nachhaltigkeit in der Modeindustrie. Auch digitalisierte Mode, die in virtuellen Metaverse-Welten stattfindet, bietet  durch spannende Lösungen immer mehr Potenzial. Dabei ist der Begriff Metaverse spätestens seit der Umbenennung der ehemaligen Facebook-Gruppe Meta durch Mark Zuckerberg im Herbst 2022 im Mainstream angekommen – obwohl es das Metaverse als solches noch nicht gibt. Expert:innen sind sich soweit einig, dass das Metaverse einen dezentralen, virtuellen, interaktiven Raum mit fliessenden Verknüpfungen zwischen der digitalen und realen Welt darstellen wird. Bezeichnungen wie «Metaverse» oder «Web 3.0» werden deshalb als Sammelbegriffe für dreidimensionale, digitale Netzwerke und Erlebniswelten verwendet, in denen Menschen als sogenannte Avatare (virtuelle Wesen) zusammenkommen, um zu spielen, einzukaufen, sich mit Kolleg:innen zu treffen oder Konzerte zu besuchen. Zuckerberg spricht von einer «neuen Generation des Internets».

Verlagert sich unser Alltag ins Metaverse?

Im Kontext der Modeindustrie verbindet man das Metaverse mit Technologien, die eine digitale und interaktive Umgebung schaffen. In dieser arbeiten User:innen als Avatare, tauschen sich aus oder gehen einkaufen.  Für all das tragen sie digitalisierte Mode. Fast wie in echt. Stefan Hauswiesner, Gründer und Geschäftsführer des Software-Unternehmens für Virtual Reality Reactive Reality, schätzt, dass es bis in spätestens fünf Jahren normal sein wird, dass man seinen Hugo-Boss-Anzug nur noch digital seinem Avatar anzieht und damit im Metaverse zur Arbeit geht. «Wenn man den Anzug sowieso nur für sein virtuelles Ich benötigt, muss potenziell ein physischer Hugo-Boss-Anzug weniger produziert werden – ergo weniger Materialverbrauch. Falls man den Anzug zusätzlich auch in physischer Form tragen will, hilft einem der Avatar, die richtige Grössen- und Materialentscheidung zu treffen.»  Der Vordenker aus Graz hat guten Grund, visionäre Annahmen wie diese zu treffen. Gemeinsam mit seinem Team hat Hauswiesner eine Software für Virtual Reality entwickelt, die es Modeunternehmen wie Hugo Boss unter anderem ermöglicht, virtuelle Anproben direkt im Webshop anzubieten und digitale Güter in virtuellen Welten zugänglich zu machen.

Hat Digital Fashion ein Gender-Gap-Problem?

Wie viel Potenzial  in den Kleidern  und Accessoires für ein  «Leben» in  digitalen Welten steckt, zeigt eine im Sommer 2022 veröffentlichte Studie des Marktforschungsunternehmens Technavio: Die Digital-Fashion-Industrie zählt mit einer jährlichen Wachstumsrate von über 35 Prozent zu einem der am schnellsten wachsenden Sektoren im Metaverse-Markt. Im Jahr 2021 belief sich der Umsatz auf knapp 500 Millionen US-Dollar. Prognosen zufolge wird er bis 2031 einen Wert von 4,8 Milliarden USD erreichen. Diesem Trend entsprechend hat die Modekette H&M im Dezember 2021 die Metaverse Design Story auf den Markt gebracht: Die funkelnden Paillettentops und smaragdgrünen Samtanzüge gibt es nicht nur physisch zu kaufen, einzelne Designs sind sogar ausschliesslich digital für einen  Avatar und nur limitiert verfügbar. Darauf folgte Anfang 2023 Loooptopia, das H&M-Metaverse, in Kooperation mit der Online-Gamingplattform Roblox. Damit ermöglicht H&M den über 58 Millionen täglich aktiven Nutzer:innen ein neues, digitales Fashion-Erlebnis. Linda Li, Head of Customer Activation & Marketing bei H&M, sagt gegenüber dem Wirtschaftsmagazin Forbes, dass der Anspruch von Loooptopia über ein unterhaltsames Erlebnis hinausgehe und das Bewusstsein für Nachhaltigkeit mit Individualität und Kreativität vereinen soll.

Das Stichwort Bewusstseinsbildung ist auch der Ansatz von Beata Wilczek: «Digital Fashion ist noch in den Kinderschuhen – im Vergleich zur Digitalisierung in der Musik oder Kunst hat die Modeindustrie einiges aufzuholen.» Wilczek ist Gründerin von  Unfolding Strategies, einer in Berlin ansässigen Strategieberatung mit dem Fokus digitale Mode, soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit zu vereinen. Mit ihrem Forschungs-Hintergrund berät Wilczek Unternehmen wie H&M und Reserved.

Ein weiterer essenzieller Faktor in der Entwicklung von Digital Fashion ist laut Wilczek das Thema Diversity. Wie werden Menschen, verschiedene Kulturen und soziale Hintergründe in Metaverse-Welten dargestellt, und welche Grundlagen müssen in einer virtuellen Welt gelten, die global vernetzt ist? Ein entscheidender Faktor, damit das gelingt, ist die Diversität in jenen Teams und bei jenen Entscheidungsträger:innen, die das Metaverse gestalten und prägen. Dies sei der erste Schritt, wenn es um Bewusstseinsbildung gehe, sagt Wilczek. Derzeit lässt diese Diversität aber noch zu wünschen übrig. Aus einem aktuellen Bericht des Beratungsunternehmens McKinseys geht hervor, dass Frauen zwar mehr Zeit auf Metaverse-Plattformen verbringen, aber weniger Führungspositionen in den führenden Metaverse-Unternehmen einnehmen als Männer. «Wir haben einen klaren Gender Gap im Metaverse festgestellt», schreiben die Autorinnen des Berichts, Mina Alaghband und Lareina Yee.

Digital Fashion ist nicht gleich nachhaltig

Doch wo fängt man an, das Bewusstsein für digitale Mode zu schärfen und einen ganzheitlich durchdachten Wandel voranzubringen? Der erste Schritt ist laut Wilczek, digitale Mode nicht mit physischen Kleidern und Accessoires gleichzusetzen. «Digital Fashion schafft ein neues Erlebnis – es ist ebenso ein Unterschied, ob ich mir einen Song auf Spotify anhöre oder ein Konzert des Künstlers besuche.» Die Forscherin sieht jedoch grosses Potenzial in der gegenseitigen Ergänzung von digitaler und physischer Mode: «Phygital Fashion». So könnten Konsument:innen beispielsweise über QR-Code-Tags physische Kleidung scannen und zu digitalen Welten geleitet werden, die zur Herkunft, den Materialzusammensetzungen und Pflegetipps zum Kleidungsstück informieren und somit mehr Transparenz schaffen.

Beata Wilczek
Ich bin zuversichtlich, dass sich die digitale Mode immer mehr durchsetzt und wir den Fokus auf die Bewusstseinsbildung legen können.

Wilczek zufolge kann Digital Fashion die zirkuläre und nachhaltige Entwicklung unterstützen, aber sie ist keine schnelle Lösung und sollte mit Bedacht eingesetzt werden. Vielmehr sollte sie Teil der langfristigen Geschäftsentwicklung sein, als eine einmalige Metaverse-Aktivierung. Modeunternehmen springen gerne auf den Zug auf und werben dafür, dass durch Digital Fashion weniger physische Mode produziert werden muss. Zu dieser Positionierung hat sich der Begriff «Metawashing» etabliert. Dieser beschreibt, wie Modeunternehmen mehr Aufwand dafür betreiben, virtuelle Produkte und Metaverse-Konzepte als nachhaltig zu vermarkten, als für wirklich transparentes ESG-Reporting und eine offengelegte Nachhaltigkeitsstrategie.

Dabei sind Digital-Fashion-Assets nicht per se nachhaltig. «Die Speicherung der Daten und das Generieren von 3D-Modellen braucht enorm viel Energie und ist zur breiten Nutzung noch nicht avanciert genug», bestätigt Kim Berndt, Gründerin des Digital Fashion Studios Studio.fbx. «Deshalb ist es essenziell, dass wir Lösungen finden, wie wir detailgetreue digitale Kleidungsstücke in kleineren Datenmengen verarbeiten können.» Hierzu arbeitet die Kölnerin mit ihrer Mitgründerin Jessica Peter an einem Forschungsprojekt, das untersucht, welche Chancen zum Beispiel durch den technischen Fortschritt entstehen können, Digital Fashion realitätsgetreuer auf Mobilgeräten abzubilden. «Durch den technischen Fortschritt werden wir digitale Mode in ganz anderen Formen erleben – von Kleidern, die erst am Körper des Avatars entstehen, bis hin zu rein digitalen Modelabels und Digital-Fashion-Designern, die die Modeindustrie beeinflussen werden, wie heutzutage Gucci, Prada und Co.»

So stilsicher ist die Phygital-Fashion-Zukunft

Bis wir nur noch in virtuellen Garderoben einkaufen, die Pullover für unsere Avatare selbst designen und der Spiegel im Laden Grössenempfehlungen macht, dauert es noch ein paar Jahre. «Technisch wäre unsere Software bereit, und in diesem Jahr werden wir spannende Projekte umsetzen», sagt Stefan Hauswiesner und ergänzt: «Modeunternehmen nehme ich als immer innovationsoffener wahr.» Der Wandel hänge jedoch nicht nur von der Akzeptanz auf Industrie- und Gesellschaftsebene ab, sondern auch vom Fortschritt der Hardware-Lösungen wie Virtual-Reality-Brillen, die virtuelle Umkleidekabinen und den Ausflug im digitalen Hugo-Boss-Anzug in virtuelle Welten noch nahbarer machen.

«Ich bin zuversichtlich, dass sich die digitale Mode immer mehr durchsetzt und wir den Fokus auf die Bewusstseinsbildung legen können», sagt Beata Wilczek. So, dass es nicht darauf hinausläuft, dass wir digitale Mode nur zum Spass (über)konsumieren – oder wie im Netflix- oder Spotify-Vergleich einfach «drauflos streamen». Wilczek: «Das Ziel ist, Digital Fashion in Einklang mit der physischen Modeindustrie, Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung zu bringen.»