Kurz nach Kriegsausbruch beherbergte ich letztes Jahr während ein paar Wochen zwei Ukrainerinnen und ihren Hund. Wie zu erwarten, hielt das Leben in der Schweiz für sie einige Überraschungen bereit. Einen der grössten Schocks erlitten sie beim Anblick der Fleischpreise in der Schweiz. Ich erinnere mich, wie sie mich an einem der ersten gemeinsamen Abende fragten: «Wie sollen wir hier überleben, wenn Fleisch so teuer ist?» Die Angst vor einer schweren Mangelernährung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Mein Hinweis, dass ich seit Jahren kaum noch Fleisch esse und mich blendend fühle, überzeugte sie nicht wirklich.

Ein gutes Jahr später halte ich fest: Die Schweiz hat zwei neue Vegetarierinnen, beide leiden nicht an Mangelernährung. Die zwei Frauen verzichten aus ökonomischen Überlegungen weitestgehend auf Fleisch. Sobald sie mehr Geld haben, wird sich das wohl wieder ändern.

Damit dürften sie sich von einem Grossteil der Vegetarier:innen unterscheiden. Für diese ist Fleischkonsum eine Gewissensfrage. Sie begründen ihren Verzicht gerne mit moralischen Werten wie Gesundheit, Tierethik oder Klimaschutz. Manchmal auch mit allem gleichzeitig.

Dorothea Baur
Vor allem Rindfleisch verursacht einen massiven Ausstoss an Treibhausgasen; und zwar satte 99 Kilogramm pro Kilo Fleisch.

Deshalb höchste Zeit, die Argumente mal zu sezieren und zu fragen: Wie unterscheiden sich diese drei Motivationen ethisch voneinander? Wie einfach ist es, sie konsequent umzusetzen? Respektive: Wie schwer machen wir uns unser Leben, wenn wir konsequent danach handeln wollen?

Nehmen wir zuerst die gesundheitlichen Gründe, die gegen Fleischkonsum sprechen. Ob sie aus medizinischer Sicht Sinn ergeben, kann und will ich nicht beurteilen. Aus ethischer Perspektive sind sie egoistisch. Und das ist nicht wertend gemeint: In der Ethik gibt es eine Theorie namens ethischer Egoismus. Sie geht davon aus, dass es moralisch legitim oder gar verpflichtend ist, den eigenen Nutzen zu maximieren. Wenn ich also meine Gesundheit zum Massstab mache für einen Verzicht auf Fleisch, ist das egoistisch.

Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen auf Fleisch verzichten, dürften nach ihren eigenen Massstäben guten Gewissens ihr Verhalten wieder ändern. Und zwar sobald sie sich von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen davon überzeugen lassen, dass Fleisch doch gesund ist. Oder sie dürften immer dann Fleisch essen, wenn sie sich etwas Ungesundes gönnen möchten. Was mir mein Sack Erdnussflips ist, ist ihnen ihr Burger.

Menschen, die aus tierethischen Gründen auf Fleisch verzichten, folgen einem sogenannt pathozentrischen Moralansatz. Das bedeutet: Alle empfindungsfähigen Wesen – und dazu gehören auch Tiere – haben einen moralischen Eigenwert. Sie dürfen deswegen unter keinen Umständen zwecks Befriedigung von Gaumenfreuden in Burger, Filets und Steaks verwandelt werden. Pathozentrische Vegetarier:innen verzichten also konsequenterweise vollkommen auf Fleisch. Die Regeln sind klar: Sie haben nur wenig Spielraum. Nur bei «road kill», also überfahrenen Tieren am Strassenrand, könnten sie vielleicht eine Ausnahme machen. Da diese sowieso schon tot sind, verursacht ihr Konsum kein zusätzliches Leid. Das ist nicht makaber: Es gibt tatsächlich Menschen, die sich aus moralischen Gründen von «road kill» ernähren. Je nach Beute gibt es zum Znacht also eine Fuchs-Lasagne oder Frosch-Geschnetzeltes.

Dorothea Baur
Fleischverzicht ist effektiv. Aber einen zusätzlichen Hebel haben wir vor allem dort, wo es vielen von uns besonders weh tut – bei den Genussmitteln.

Am meisten Flexibilität, aber eben auch Verwirrung und Entscheidungskomplexität, gibt es für diejenigen, die vorrangig aus Gründen des Klimaschutzes auf Fleisch verzichten. Zu diesen zähle auch ich mich. Wir wissen, dass vor allem Rindfleisch einen massiven Ausstoss an Treibhausgasen (THG) verursacht; und zwar, so erfuhr ich vor Kurzem, satte 99 Kilogramm pro Kilo Fleisch.

Aber die CO2-Rangliste von Lebensmitteln zeigt, dass fleischlos alleine nicht reicht, wenn wir uns CO2-arm ernähren wollen. Auf Rang zwei hinter dem Rindfleisch folgt nämlich – und hier gerate ich in moralische Nöte – schwarze Schokolade mit 47 Kilogramm Treibhausgas. Auch mein geliebter Kaffee ist mit 29 Kilogramm CO2-Ausstoss eine ziemliche Klimabombe. Poulet hingegen verursacht nur gerade 9.9 Kilogramm Ausstoss. Seine ungeborenen Kinder, besser bekannt als Eier, sind mit 4.7 Kilogramm THG noch «lighter».

Am besten schneiden übrigens Bananen mit 0.86 Kilogramm Treibhausgas-Ausstoss pro Kilo ab. Sprich: Würde ich wirklich CO2 priorisieren, müsste ich mich nicht nur konsequent vegetarisch ernähren, sondern vor allem auf Schokolade und Kaffee verzichten. Und bei diesem Gedanken schlucke ich dreimal leer.

Mein Fazit: Würde ich aus tierethischen oder gesundheitlichen Gründen auf Fleisch verzichten, wäre mein Leben einfacher. Für Tierfreund:innen ist das richtige Verhalten kategorisch klar. Auch die selbstdeklarierten Gesundheitsapostel:innen haben es nicht so schwer: Wenn die moralisch richtige Handlung darin besteht, das eigene Interesse zu verfolgen, tut Ethik nie weh. Am schwierigsten hingegen ist es für die Klimawandel-Besorgten: Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, Fleischverzicht ist effektiv. Aber einen zusätzlichen Hebel haben wir vor allem dort, wo es vielen von uns besonders weh tut –  bei den Genussmitteln. Sind wir bereit dazu? Ich nicht. Müssen wir dazu bereit sein? Die Antwort darauf überlasse ich lieber euch. Denn ich habe keine.

Die Flugscham erreicht unsere Teller
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