Stell dir vor, du sitzt gemütlich mit dem Laptop auf der Couch und surfst durchs Weltgeschehen. Da springt dir diese Schlagzeile ins Auge: «Westliche Textilunternehmen halten Näherinnen in Betriebsunterkünften gefangen – Ausgangssperre, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Überwachung.» Was würde dein Instinkt sagen?

Aus dem Bauch heraus würde meine Reaktion so ausfallen: «Wusste ich es doch! Moderne Sklaverei, Ausbeutung, Unterdrückung … Wie konnte ich so blöd sein, dem Gerede der westlichen Modelabels über soziale Standards ihrer Lieferketten zu glauben?»

Bestätigt würden meine Gedanken auf Social Media: Hier trenden bereits die Hashtags #FreiheitFürNäherinnen und #DeineJeansKostenIhreFreiheit. Es würde nicht lange dauern, bis erste Fotos von Politiker:innen und Popstars auftauchen, die eine der genannten Marken tragen und deshalb zur persona non grata erklärt würden.

Auch ich würde betroffen feststellen, dass meine Jeans «made in India» ist und von einer der betroffenen Marken stammt. Dabei hatte ich doch extra ein Modell aus der «organic line» gekauft, um Gutes zu tun. Aber «organic» sagt mehr über das Wohlergehen von Baumwollsträuchern als dasjenige der Näherinnen aus. Das würde mir dann schmerzlich bewusst. Ich würde mich fragen: Unterstütze ich gerade ein neues Guantanamo?

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Sexismus, Mobbing, Lohnungleichheit am Arbeitsplatz? Absolute No-Gos, dennoch nehmen es viele Frauen hin. Das darf nicht sein. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Rechtsschutzversicherung von Frauen für Frauen. Wehr dich.

Und damit könnte die Geschichte zu Ende sein. Ich würde weitersurfen auf der Couch, erschüttert, aber ich würde durch ein paar Likes zu den richtigen Tweets von den richtigen Leuten meinen Protest zum Ausdruck bringen. Ausserdem würde ich entweder öffentlich oder zumindest mir selbst schwören, in Zukunft die genannten Marken zu boykottieren.

Die Wahrheit hinter der Schlagzeile

Nun habe ich aber gelernt, nicht einfach meinem Instinkt zu vertrauen, wenn es um ethische Fragen geht, und auch nicht dem virtuellen Geschrei auf Social Media, wo Leute schneller tippen, als sie denken. Meist lohnt es sich, ein paar Mal tief durchzuatmen und zu reflektieren. Je skandalöser die Schlagzeile, desto wichtiger ist es, hinter die Kulissen zu schauen. So auch im «Fall Indien», der nun kein Gedankenspiel mehr ist. Dort gibt es tatsächlich gefängnisähnliche Unterkünfte für Arbeiterinnen. Von den News über diese menschenunwürdigen Zustände aufgerüttelt, haben Forschende kürzlich Gespräche mit den Arbeiterinnen in den betreffenden Unterkünften geführt. Sie haben mit den «Gefangenen» geredet.

Dorothea Baur
Nun habe ich aber gelernt, nicht einfach meinem Instinkt zu vertrauen, wenn es um ethische Fragen geht, und auch nicht dem virtuellen Geschrei auf Social Media, wo Leute schneller tippen als sie denken. Meist lohnt es sich, ein paar Mal tief durchzuatmen und zu reflektieren.

Dabei kam Erstaunliches zutage. Die Frauen sehen sich keineswegs als Häftlinge. Stattdessen fühlen sie sich privilegiert. Für sie sind die Wohnheime kein Gefängnis, sondern Orte, an denen sie geschützt und sogar befreit werden. Sie sagen, dass ihnen die Herbergen weit mehr Schutz bieten, als sie bei ihren Eltern in den Dörfern erleben. Dort beschränkt sich ihre Bewegungsfreiheit zu ihrer eigenen Sicherheit oft auf die eigenen vier Wände. Die Verhältnisse sind um ein Vielfaches weniger komfortabel als in den Arbeitsunterkünften. Einige der besseren Herbergen bieten ihren Bewohnerinnen sogar Yoga, Computerkurse und Schwimmunterricht an. Andere vermitteln finanzielle Bildung und Wissen zu Themen wie Ernährung und Hygiene und sogar Frauenrechten.

Wir machen es uns zu einfach

Die Realität der «Gefängnisse» für Textilarbeiterinnen ist also um einiges komplexer, als wir denken. Niemand bestreitet, dass Niedriglöhne und Ausbeutung in der Textilbranche insgesamt und auch in Unternehmen, die solche Unterkünfte anbieten, weit verbreitet sind. Aber wenn wir über Lösungen nachdenken, müssen wir anerkennen, dass das aktuelle System auch ein paar wichtige, wenn auch begrenzte Freiheiten bietet. Und das sage nicht ich, sondern das sagen die Betroffenen.

In den letzten Jahren wird immer lauter gefordert, Betroffenen eine Stimme zu geben, vor allem dann, wenn es um Diskriminierung und andere Ungerechtigkeiten geht. So heisst es zum Beispiel im Zusammenhang mit Rassismus: «Rede nicht darüber, wenn du selbst nicht davon betroffen bist. Sei respektvoll und höre zu. Lass es dir erklären von denjenigen, die davon betroffen sind. Du kannst nicht wissen, wie sich eine nicht-weisse Person fühlt.» Das Gleiche gilt für indische Textilarbeiterinnen.

Rufe nach Befreiungsaktionen, um die Arbeiterinnen aus dem Gefängnis, welches für sie Freiheit bedeutet, in die Freiheit zu entlassen, welche für sie Gefahr bedeutet, wären deshalb eine krasse Verletzung des Prinzips, dass wir Betroffenen zuhören wollen. Und ein flächendeckender Boykott der Marken, die solche Unterkünfte betreiben, wäre ebenso wenig im Interesse der Arbeiterinnen.

Dorothea Baur
Wenn wir zu Lösungen schreiten, müssen wir das manchmal wohl oder übel innerhalb von Systemen tun, die wir lieber niederreissen würden. Wir müssen Wandel anstreben, aber anders: durch Information, Ermächtigung und Befähigung.

Wir können nicht das unvoreingenommene Zuhören predigen, aber uns die Finger in die Ohren stecken, sobald die Opfer die Opferidentität verweigern, die wir für sie vorgesehen haben. Wenn wir zu Lösungen schreiten, müssen wir das deshalb manchmal wohl oder übel innerhalb von Systemen tun, die wir lieber niederreissen würden. Wir müssen Wandel anstreben, aber anders: durch Information, Ermächtigung und Befähigung. Darüber lässt sich zwar nicht mit der gleichen Empörung twittern, aber es wirkt, und zwar dort, wo es wirken soll.