Michael Hengartner ist Vater von sechs Kindern und Präsident des ETH-Rats. In den Männerfragen spricht er über Sexismus in der Wissenschaft, die Biologie der Männer und seinen Schnauz.

Wir fragen Männer, was sonst nur Frauen gefragt werden. Wir wollen damit einen Dialog über Stereotypen in Gang setzen, zum Nachdenken und Schmunzeln anregen, aber auch Toxizität entlarven.

Du hast eine steile Karriere in der akademischen Welt hingelegt. Wie ist dir das als Mann gelungen?

(Überlegt lange, antwortet dann zögerlich.) Mit viel Arbeit und viel Glück. Ich war oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatte stets Menschen im Umfeld, die mich unterstützt haben.

Also Professorinnen, die du um den Finger wickeln konntest?

(Schmunzelt.) Das nicht. Ich hatte das Glück, auf Leute zu treffen, die mein Potenzial sahen und mir eine Chance gaben. Schon als Student im ersten Semester erhielt ich von einem Professor ein Angebot für einen Laborplatz. Das ist sehr selten. Ich durfte auch früh mit an einen internationalen Kongress. Bei meiner Dissertation hat mich mein Professor ebenfalls sehr unterstützt und mir viele Freiheiten gelassen.

Michael Hengartner
Spitzenforschung ist wie Spitzensport oder Spitzenmusik: Es gibt nur ganz wenige Plätze, und der Wettbewerb ist hart.​​

Glaubst du, du hast diese Unterstützung bekommen, weil du so hübsch warst?

(Macht grosse Augen und lächelt verlegen.) Danke für die Blumen. Ich weiss nicht, ob ich deine Einschätzung über mein Aussehen teile. Ich habe eher die gegenteilige Erfahrung gemacht. 

Wie meinst du das?

Bei den Kadetten im Militär kam ich nicht weiter, weil ich nicht adrett genug war. Ich dachte mir: Ihr Idioten, wenn ihr mich nicht wollt, weil ich lange Haare und zu wenig gut polierte Schuhe habe, mache ich halt was anderes.

Vor allem Männer verlassen die Wissenschaft oder verzichten auf eine akademische Karriere, weil das Arbeitsklima so toxisch ist. Wie kommst du damit klar?

Spitzenforschung ist wie Spitzensport oder Spitzenmusik: Es gibt nur ganz wenige Plätze, und der Wettbewerb ist hart. Man trifft immer wieder auf Menschen, die aggressiv oder egoistisch sind. Heute funktioniert dieses Verhalten nicht mehr in allen Bereichen. Gerade in der Forschung ist Zusammenarbeit unabdingbar. Man kann kein:e Einzelkämpfer:in mehr sein. 

Hast du in deiner Karriere viel Sexismus erlebt?

Relativ wenig. Aber ich war auch sehr fokussiert auf meine Arbeit.

Also hast du all die anzüglichen Sprüche einfach ausgeblendet?

Nicht aktiv ausgeblendet. Ich habe vieles nicht wahrgenommen. Ich habe auch wenige Sprüche über mein Aussehen oder mein Geschlecht zu hören bekommen, dafür aber über meine Herkunft und meine Sprache. 

Warum das?

Ich bin in der Schweiz geboren, in Kanada aufgewachsen und lebte eine Zeit lang in den USA. Über meinen Akzent hat man sich – egal wo ich war – immer wieder lustig gemacht. Mir machte das nicht viel aus. Wer solche Sprüche macht, disqualifiziert sich am Ende selbst. 

Wie viele Frauen haben dich auf der Karriereleiter überholt, obwohl du besser warst als sie?

(Überlegt lange.) Ich kann mich nicht beklagen. Es gab Frauen, die Jobs bekommen haben, die ich auch wollte. Aber es war stets ein fairer Wettbewerb. Ich mache ja gerne Sportvergleiche.

Nur zu.

Im Beruf ist es wie im Fussball. Manchmal schiesst du aufs Tor und triffst. Manchmal ist der Goalie besser, oder du schiesst daneben. Je mehr du aber aufs Goal schiesst, umso höher ist die Chance, irgendwann zu treffen. Im Beruf braucht es genau das: eine gewisse Beharrlichkeit und eine Portion Glück. Ich hatte beides.

Michael Hengartner
Ich finde, Demut ist eine Tugend.​​

Du hast mehrmals das Glück angesprochen. Warum stellt ihr Männer euer Licht immer so unter den Scheffel?  

Das ist vielleicht nicht so männlich, sondern eher schweizerisch. Und: Ich finde, Demut ist eine Tugend. Es gibt auch das Gegenstück: die Tyrannei der Meritokratie. Also die Tendenz, dass erfolgreiche Menschen denken, sie seien erfolgreich, weil sie so tolle Typen seien. Aber in Sachen Erfolg ist vieles Zufall: In was für eine Familie man geboren wird, in welchem Land man aufwächst oder welche Personen man auf dem Lebensweg trifft. Vieles kann man nur bedingt oder gar nicht beeinflussen. Bescheidenheit und Demut geben einem die Möglichkeit, dankbar zu sein. Das hat Vorteile. 

Die wären?

Dankbarkeit und das Gefühl, anderen etwas zu geben, machen glücklich. Das weiss man aus Studien. Diese Haltung ist also auch egoistisch gesehen die bessere.

Du hast dich in die Naturwissenschaften gewagt. Warum bist du kein Geisteswissenschaftler geworden, Soziologe zum Beispiel? 

(Schmunzelt.) Das hat mit meinem Vater zu tun. Er war Professor für Mathematik. Wir waren fünf Jungs, und mein Vater fand, wir sollten alle Mathe studieren. Ich mochte Mathematik. Mein Problem war: Ich war die Nummer zwei in der Familie, und mein älterer Bruder hatte den Rat unseres Vaters befolgt. Ich hätte mir zwar vorstellen können, das gleiche zu machen wie mein Vater, aber sicher nicht wie mein älterer Bruder. Darum habe ich mich für Biologie entschieden.

Du Rebell …

Haha, ein bisschen, aber nicht wirklich. Unsere Eltern fanden es gut, dass wir alle unsere Wege gingen. 

Als Biologe musst du es ja wissen: Sind Männer wirklich von Natur aus das schwächere Geschlecht?

In gewissen Dingen schon. Wir Männer sind schlecht im Gebären. Dafür haben wir mehr Muskelmasse als Frauen. Die Selektion hat vor Millionen von Jahren begonnen, und die Genetik entwickelt sich sehr langsam. Genetisch sind wir noch dieselben Barbaren wie vor 20'000 Jahren. 

Michael Hengartner
Ich habe Kollegen, die sich sehr verantwortlich fühlen für das Auto oder den Rasenmäher. Es ist also nicht so, dass sich Männer um nichts kümmern. Es ist einfach selektiv.​​

Gut zu wissen.

Ja, oder? Weiterentwickelt haben wir uns nur dank der Kultur. Sie erlaubt es uns, uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln. Ohne sie wären wir noch immer in der Höhle und würden einander die Köpfe einschlagen. Dank der Kultur können wir neue Fähigkeiten annehmen. Dank der Kultur sind auch die genetischen Anlagen des Geschlechts weniger wichtig. Wir können kulturell viele genetische Schwächen kompensieren.

Also könnte die Kultur euch Männer auch helfen, dieses kümmernde Verhalten abzulegen? Damit ihr euch nicht immer für alles verantwortlich fühlt.

(Schmunzelt.) Wir fühlen uns durchaus für gewisse Dinge verantwortlich. Ich habe Kollegen, die sich sehr verantwortlich fühlen für das Auto, den Rasenmäher und den Schraubenzieher. Es ist also nicht so, dass sich Männer um nichts kümmern würden. Aber es ist schon relativ selektiv. Gleichzeitig interessieren sich Frauen auch für manche Dinge mehr als für andere. Und natürlich sind wir hier tief in den Klischees. Es gibt insgesamt eine wunderbare Vielfalt. 

Heute bist du Präsident des ETH-Rats. Führst du das Gremium mit Gefühl?

Anders geht es gar nicht. Denn da sitzen elf Alphatiere, und die haben alle recht – per Definition. Ausserdem sind sie alle Expert:innen in ihrem Gebiet. Meine Aufgabe ist es, sie alle auf ein gemeinsames Ziel einzustellen. Für eine gute Zusammenarbeit braucht es Gefühl und gute Argumente.

Die ETH ist fest in Frauenhand, auch unter den Studierenden. Wie schafft ihr es, Männer für eure Studiengänge zu begeistern?

Wir haben das Glück, dass die jungen Menschen in der Schweiz ihren Vorlieben nachgehen können. Diese sind – möglicherweise durch kulturelle und soziale Prägungen, möglicherweise durch Veranlagungen – unterschiedlich. In der Veterinärmedizin sind über 80 Prozent der Studierenden Frauen. Maschinenbau hingegen studieren immer noch grossmehrheitlich Männer. Wir fragen uns: Was machen wir falsch, dass sich nicht mehr Männer fürs Tierwohl interessieren, und warum wollen Frauen nicht mit Maschinen arbeiten? 

Michael Hengartner
Männer und Frauen sind auf unterschiedliche Weise innovativ. Wichtig ist: Nicht jede Innovation führt zu einem Patent, und nicht jedes Patent ist ein grosser Sprung für die Gesellschaft.​​

Und, zu welchem Schluss seid ihr gekommen?

Ganz überspitzt kann man sagen: Jungs spielen gerne mit etwas, Frauen suchen einen Sinn in ihrer Aktivität. Wenn wir nun von diesem stark karikierten Bild ausgehen, müssen wir unsere Studiengänge anders verkaufen. Zum Beispiel mit einer Kampagne, die sagt: Rette Leben, werde Medtech-Ingenieurin! 

Es gibt nicht nur bei den Studiengängen Gender Gaps. Männer erschaffen auch weniger Neues als Frauen. Warum sind Männer nicht so innovativ?

Männer und Frauen sind auf unterschiedliche Weise innovativ. Wichtig ist: Nicht jede Innovation führt zu einem Patent, und nicht jedes Patent ist ein grosser Sprung für die Gesellschaft. Gerade von Frauen gibt es sehr viel Social Innovation. Diese Errungenschaften lassen sich nicht immer mengenmässig bestimmen, aber sorgen für wichtige qualitative Verbesserungen. Ich war ja selbst lange im Vorstand unseres Quartiervereins …

Typisch Mann, so engagiert fürs Gemeinwohl.

… Haha, genau. Also, auf jeden Fall habe ich unter anderem den Räbeliechtliumzug mitorganisiert. Ich wollte mich fürs Quartier engagieren und etwas zurückgeben. Das gab mir Zufriedenheit. Ich weiss, dass solche Arbeiten sonst eher Frauen übernehmen. 

Und wie hängt das jetzt mit der Innovationskraft der Männer zusammen?

Männer und Frauen haben unterschiedliche Arten, wie sie der Gesellschaft etwas zurückgeben und Zufriedenheit finden. Das wiederum führt möglicherweise zu unterschiedlichen Innovationen.

Das ist eine Möglichkeit. Eine andere ist: Ihr Männer verkauft euch schlecht und erhaltet darum keine Bühne …

Wenn du verallgemeinern willst, können wir es schon benennen: Männer haben die Tendenz, sich zu überschätzen. Das ist manchmal hilfreich, führt aber auch oft zu Drama. Und Frauen unterschätzen sich eher und bleiben darum vielleicht mehr im Hintergrund. Vieles ist kulturell verankert. Unsere Gesellschaft wandelt sich. Solche Veränderungen brauchen aber Zeit.

Du hast sechs Kinder. Wie hast du Familie und Karriere – und Quartierverein – unter einen Hut gebracht?

Man muss als Paar ein gutes Team sein und sich die Aufgaben, die anfallen, gut aufteilen. Meine Frau ist auch Wissenschaftlerin. Sie kennt die Herausforderungen, die mein Job mit sich bringt, und hat dafür viel Verständnis. 

Wie nett von ihr. Hilft sie zu Hause bei der Familienarbeit auch etwas mit?

Massiv. Ich muss fast nichts machen. Ich übernehme das Rasenmähen. Das machen wir der Biodiversität zuliebe aber nur dreimal im Jahr. Zudem kümmere ich mich um den Garten, aber auch da haben wir sehr pflegeleichte Pflanzen.

Das hast du dir ja gut eingerichtet. Sag mal, du bist jetzt 57. Wie läuft’s so mit der Andropause?

Ähm (überlegt lange). Wir sind gemütlicher geworden, aber nicht weniger romantisch. 

Und deine Launen hast du im Griff?

Ich habe eigentlich immer gute Laune. Es kommt wirklich nur ganz selten vor, dass ich schlecht drauf bin.

Du trägst einen hippen Schnauz: Hast du dich von den jungen Studenten inspirieren lassen?

Haha, nein, den habe ich schon, seit ich 17 bin. Ich habe damit alle Phasen durchgemacht: Von Massenabneigung über Trend bis zu Akzeptanz. Nur einmal habe ich ihn für eine Hochzeit abrasiert. 

Was tust du, um in Shape zu bleiben?

Ich fahre Velo, mache den Garten, gehe mit dem Hund spazieren und nehme immer die Treppe. Ich mache keinen Sport, aber ich bleibe mit Life Hacks in Bewegung.

Immerhin. Noch eine Frage zum Schluss: Durch die Kamera siehst du sehr faltenfrei aus. Wie machst du das? Hilfst du etwas nach?

Wenn man genügend Fettpolster hat, sieht man die Falten weniger (lacht). Ein bisschen Sonne hilft auch.