Kürzlich bekam ich einen Anruf von Anna. (Ihren Namen habe ich aus Gründen der Privatsphäre geändert.) Wir hatten kurz an einem Projekt zusammengearbeitet, und ich schätzte dabei sowohl ihre Arbeit als auch ihre Persönlichkeit sehr. Das letzte Mal mit Anna gesprochen hatte ich, kurz bevor sie ihren letzten Job ins Blaue kündigte. Nicht, weil ihr die Rolle oder das Unternehmen nicht gefiel, sondern weil ihre Vorgesetzten ihr das Leben mit Misstrauen, Micromanaging und ständiger, sehr persönlicher Kritik zur Hölle machten. Annas Stresssymptome waren am Ende so massiv, dass sie wusste, was zu tun war. Sie brauchte von mir nur ein bisschen Zuspruch, dass sie sicher schon bald etwas Neues, Besseres finden würde.
Am Telefon erzählte Anna mir jetzt, dass sie nach einem relativ langwierigen Bewerbungsprozess die Zusage für eine neue Stelle bekommen habe. Sie wisse aber noch nicht, ob sie sie annehmen solle, weil das Ganze einen Haken habe: Obwohl sie bereits zu Beginn des Prozess auf Wunsch ihres potenziellen neuen Arbeitgebers ihre Lohnvorstellungen klar formuliert hatte – absolut nicht überrissen, sondern meiner Meinung nach eher zu tief –, hatte man ihr den Job nun für 20 Prozent weniger Lohn angeboten. Ohne weitere Verhandlungsbasis. Die Begründung: Anna habe zwar viele spannende Skills und Erfahrungen gesammelt, für die zu besetzende Position brauche sie diese aber nicht alle, deshalb würde man sie auch nicht entlohnen.
Als sie mir das erzählte, verschluckte ich mich an meinem Kaffee und prustete: «Entschuldigung, kannst du das bitte wiederholen?!» Ich dachte kurz: Nein! Ich war mir sicher, dass ich mich verhört haben musste. Ich habe schon viele abgefahrene Geschichten über schiefgelaufene Rekrutierungsprozesse gehört sowie selbst in meiner Karriere viele Menschen für offene Stellen interviewt und dabei verrückte Sachen erlebt. Aber diese Aussage fand ich wirklich absurd.
Ich schluckte meine aufkochenden Emotionen mit dem restlichen Kaffee herunter und fragte Anna, wie sie sich damit fühle und wie sie den Prozess als Ganzes erlebt habe. Weil ich mir wünschte, dass sie selbst erkennen würde, dass das eine fette Red Flag ist. Anna schwankte zwischen Wut und Selbstzweifeln. Sie erzählte, dass sie die direkt vorgesetzte Person der Stelle sehr sympathisch gefunden habe; dass die geschäftsleitende Person ihr aber beim ersten Kennenlernen ziemlich schnell über den Mund gefahren sei und ihr gesagt habe, dass sie noch nicht überzeugt sei. Dass Anna noch beweisen müsse, dass sie es wert sei, im Unternehmen tätig zu sein.
An diesem Punkt platzte ich fast.
Anna versuchte sich die Situation schönzureden, weil sie die Stelle wirklich spannend fand und Angst hatte, sonst nichts zu finden. Sie sagte mir, dass sie mit der Geschäftsleitung vermutlich gar nicht so viel zu tun haben würde. Dass die Person, an die sie direkt reporten würde, sich sogar für den zu tiefen Lohn entschuldigt und ihr versichert habe, sie hätte ihr mehr angeboten, wenn sie gekonnt hätte. Und das Schmerzhafteste für mich: Sie fragte sich, ob sie vielleicht wirklich nicht gut genug sei.
Während Anna erzählte und erzählte, änderte sich aber irgendwann etwas an ihrer Stimme. Ich hörte den Groschen förmlich fallen, und plötzlich rief sie: «Was fällt denen eigentlich ein? Die haben meine Arbeit gar nicht verdient!» Ich atmete erleichtert auf und ergänzte: «Und du hast einen solchen Arbeitgeber nicht verdient, Anna. Selbst wenn sie dir den doppelten Lohn geboten hätten, wäre das kein gesunder Ort für dich gewesen. Hab ein bisschen Geduld, bewirb dich weiter, glaub an dich und deine Fähigkeiten. Du findest bald etwas Besseres, davon bin ich überzeugt.»
Annas Geschichte ist nur eine von vielen dieser Art, die ich in den letzten Monaten gehört habe. Und es macht mich ehrlich gesagt rasend, dass es immer noch so viele Unternehmen gibt, die ihre potenziellen und bestehenden Mitarbeitenden behandeln wie eine «Human Resource», eine menschliche Ressource, die einfach austauschbar ist.
Die Krux ist aber, dass Arbeitgebende sich das so lange leisten können, solange wir es mit uns machen lassen. Aus Existenzängsten (teils natürlich begründet!), Selbstzweifeln oder schlicht weil wir die Aufgaben, das Team oder den Purpose des Unternehmens mögen, sagen wir Jobs zu oder machen sie weiter. Und das, obwohl es genügend Warnsignale gibt und unsere inneren Alarmglocken laut schrillen.
Ich habe Annas Geschichte mit euch geteilt, weil sie ein guter Aufhänger für das ist, was ich als Burnout-Überlebende, die mit Hunderten anderen Betroffenen im Austausch steht, heute weiss und euch mitgeben möchte: In 95 Prozent aller mir bekannten Burnout-Fälle haben das Verhalten des oder der Vorgesetzten und die damit einhergehende Firmenkultur massgeblich zur Erkrankung beigetragen.
Ich finde, das ist kein Job dieser Welt wert. Und ich wünsche mir, dass wir, wann immer möglich, aus diesem Teufelskreis aussteigen. Die aktuellen Entwicklungen geben uns Rückenwind: Es herrscht akuter Fachkräftemangel. Unsere Chancen, Respekt und Wertschätzung am Arbeitsmarkt einzufordern, waren vermutlich nie besser. Es ist Zeit, dass wir den Wert unserer Arbeit und Persönlichkeiten erkennen und mutiger werden.
Wie seht ihr das? Ich würde mich freuen, wenn ihr eure Meinungen auf unseren Social-Media-Kanälen mit uns teilt.
Herzlichst, Julia
P.S. Kurz vor Veröffentlichung dieser Kolumne hat Anna eine Whatsapp-Nachricht geschickt: «Julia, ich habe einen super Job beim nettesten Team ever gelandet und ich freue mich soooooooooo 😍😍😍.»
Julia Panknin ist selbstständige Journalistin, Speakerin und Beraterin mit Fokus auf die Themen Parental Burnout und Vereinbarkeit von Kind und Karriere sowie Gründerin von mamibrennt.com. Die Münchnerin lebt seit 15 Jahren in der Nähe des Zürichsees und hat eine kleine Tochter, die sie 50:50 im Wechselmodell mit deren Vater betreut.