Schon seit über zwei Jahren ist Anita nun Single. Anfangs hat sie das auch nicht weiter gestört. Sie hat sich einfach noch etwas mehr in ihre Arbeit vertieft; genug zu tun gibt es allemal.

Schon seit über einem Jahr gefällt Anita nun Joachim. Zuerst will sich Anita ihre Zuneigung nicht eingestehen. Natürlich weiss sie, dass Liebe am Arbeitsplatz ein Tabu ist. Andererseits, wo soll sie sonst je einen Mann kennenlernen, wenn sie täglich 11 Stunden im Büro verbringt? Im Pilates, das sie zweimal die Woche besucht, um ihre Figur zu halten, sind praktisch nur Frauen. Und die zwei bärtigen Jünglinge, die sich neulich dazugesellt haben, sind bestimmt zehn Jahre jünger als Anita.

In einem Anflug von Revoluzzergeist beschliesst Anita daher, aus der Mauerblümchenecke auszubrechen und Joachim optisch auf sich aufmerksam zu machen. Da sie in Stilfragen nicht besonders sicher ist, lässt sie sich professionell beraten. Und von Frau de Longo, der Inhaberin von „Dress for Success“, in die Geheimnisse des „etwas mutigeren Business Dresscodes für die erfolgreiche Geschäftsfrau von heute“ einweihen.

„Es geht darum, umwerfend, aber immer noch züchtig auszusehen", erklärt ihr Frau de Longo. Da Anita sie im Stundenlohn bezahlt, verzichtet sie darauf, eine Diskussion über den Begriff „züchtig“ anzufangen. Aber im Stillen fragt sich Anita schon, was das genau bedeuten soll und weshalb nie jemand äussern würde, dass sich Männer im Business-Kontext „züchtig“ zu kleiden hätten.

Frau de Longo rät ihr, statt ihre dunklen Hosenanzügen ruhig einmal ein Kostüm in einer auffälligeren Farbe zu tragen. Ihre Knie seien durchaus vorzeigbar, da könne sie beim Jupe getrost auf die Mindestlänge des Saumes bis eine Handbreit darüber gehen. Auch empfiehlt sie ihr, von den flachen Schnürschuhen auf geschlossene Pumps mit mittlerer Absatzhöhe zu wechseln. Bis sieben Zentimeter gelte ohne Weiteres noch als schicklich. Die Strümpfe könnten, da sie keine Tätowierungen habe, transparent ausfallen. Weiter sei beim Dekolletée darauf zu achten, dass es bis maximal zur Mitte des Brustbeins reiche. Bei Blusen bedeute das, dass die ersten beiden Knöpfe geöffnet sein dürfen. Zu eng, ärmellos oder durchsichtig sollten diese aber niemals sein. Anitas schulterlanges Haar dürfe sie ruhig auch einmal offen tragen statt immer streng zurückgebunden. Und ein dezentes Make-up liege allemal drin.

Von Frau de Longo ermutigt, verbringt Anita den ganzen Samstag mit Shopping und beim Frisör und tritt am Montag mit komplett überholtem Look im Büro auf.

Als sie mit ihrem roten Deux-Pièces, den dazu passenden roten Pumps und wehendem Haar aus dem Lift steigt, zieht sie alle Blicke auf sich und fühlt sich grossartig. Auch Joachim wird sie so nicht mehr übersehen können, wenn er sich spätestens nach dem Mittag seinen Espresso holt und dazu an Anitas Eckbüro vorbei muss, da ist sie sich sicher.

Immer wieder geht sie bereits vormittags zur Kaffeebar, für den Fall, dass er schon eher auftaucht. Um 11 Uhr fällt ihr auf, dass die neuen Schuhe drücken und sich an der linken Ferse eine Blase bildet. Auch rutscht der Jupe beim Gehen ständig höher, obwohl sie sich strikt an Frau de Longos Längenanweisung gehalten hat. Zudem schwitzt sie unter dem eng sitzenden Blazerjäckchen in ihre langärmelige Bluse.

Nach dem Mittagessen muss sich Anita schon arg konzentrieren, um in ihren Pumps nicht zu stark zu hinken. Als sie auf dem Klo ihre Blase verarzten will, reisst sie sich eine riesige Laufmasche in den neuen Strumpf, als sie diesen wieder hochziehen will. Verfluchte Sch…icklichkeit! Der Strumpf muss weg und wird kurzerhand in den Abfalleimer gestopft. Als Anita im Spiegel ihr gerötetes Gesicht erblickt, beschliesst sie, auch das Jäckchen auszuziehen. Dass das rote Innenfutter auf die feuchten Achselhöhlen ihrer weissen Bluse abgefärbt hat, merkt sie nicht. Dafür pudert sich Anita die glänzende Stirn und zieht ihre Lippen nach – im Ton des Kostüms, wie von Frau de Longo empfohlen.

Vorsichtig humpelt Anita zur Kaffeemaschine, um Joachim abzupassen und tatsächlich: er steht schon da. Allerdings unterhält er sich mit einem Arbeitskollegen aus der Entwicklungsabteilung, als Anita näher kommt. Vor Aufregung nestelt Anita an ihren Blusenknöpfen herum und merkt, dass sich entgegen Frau Slongos Rat auch der dritte geöffnet hat. Da sie in der rechten Hand ihre Tasse hält, versucht sie ihn mit der linken wieder ins Knopfloch zu schieben. Ein Ding der Unmöglichkeit, wie sich herausstellt, vor allem in der kurzen Zeit, bis sie Joachim erblickt.

Er sieht Anita mit leicht zerzaustem Haar, glühenden Backen, roten Lippen und Achselhöhlen, eine Hand im Ausschnitt, keine mehr frei, um den hochgerutschten Jupe herunterzuziehen, ohne Strümpfe auf unbequemen roten Pumps zur Kaffeemaschine wanken. Er zieht die Augenbrauen hoch und raunt seinem Kollegen etwas zu. Anita schnappt, als sie an der Bar ankommt, nur noch das Wort „vulgär“ auf. Rasch wendet sie den Blick ab und tut so, als suche sie nach einem Teebeutel. Als sie sich Wasser in die Tasse laufen lässt, sind die beiden bereits verschwunden. Genauso wie Anitas morgendliches Selbstvertrauen.

Der Tag ist für Anita gelaufen und sie würde auf der Stelle nach Hause gehen, wenn sie nicht noch die späte Besprechung mit ihrem Vorgesetzten hätte, der erst um 18.30 aus der Verwaltungsratssitzung kommt. Sie verzieht sich in ihr Eckbüro und hofft, dass der Nachmittag rasch vergeht.

Als sie sich nach 18 Uhr müde ein Glas Wasser holt, steht ein graumelierter Herr in gut sitzendem Anzug an der Bar. Sie kennt ihn nicht mit Namen, hat ihn aber auch schon auf dem Flur gesehen, als der Verwaltungsrat tagte. Kenner sitzt seit drei Jahren im Board der Texmen International AG und vertritt sich, weil ihn die Diskussion über die neuen Accounting Standards langweilt, die Beine.

Sowie er die  aufgelöste Anita in Rot entdeckt, ist er sofort wieder bei der Sache. „Hallo Mäuschen, na, auch durstig?“ Anita, die fast schon vergessen hat, wie sie aussieht, nickt verwirrt. „Wollen wir in einer Stunde etwas Prickelnderes zusammen trinken? Ich lade Dich ein.“ „Ähm, ich muss noch arbeiten…“ „Ein Drink mit mir ist auch Arbeit, Schätzchen, ich treffe Dich um sieben vor dem Haupteingang.“ Als Kenner wieder im Sitzungszimmer verschwunden ist, stöckelt Anita stirnrunzelnd zurück in ihr Büro.

Als ihr ihr Vorgesetzter das späte Meeting um 18.45 per SMS absagt, beschliesst Anita die Einladung von Kenner anzunehmen. Sie kann jetzt einen Drink und ein paar Komplimente vertragen.

Kenner wartet bereits gegenüber des Eingangs. Lässig rauchend lässt er den Arm aus seinem 911 Carrera Cabriolet hängen und hupt Anita zu, als diese aus der Drehtür tritt. Sie fühlt sich, abgesehen von den gepflasterten Blasen, fast so beschwingt wie heute morgen. Insbesondere als sie aus dem Augenwinkel beobachtet, wie auch Joachim gerade das Gebäude verlässt und sie in Kenners Wagen steigen sieht.