Rolf Hiltl führt in vierter Generation das älteste vegetarische Restaurant der Welt – das Hiltl. Der dreifache Vater spricht in den Männerfragen über die Umgangsformen in der Gastronomie und seine erfolgreichen Vorfahrinnen und erklärt, weshalb heute fast gleich viele Männer wie Frauen im Hiltl essen.

Wir fragen Männer, was sonst nur Frauen gefragt werden. Wir wollen damit einen Dialog über Stereotypen in Gang setzen, zum Nachdenken und Schmunzeln anregen, aber auch Toxizität entlarven.

Vor über 20 Jahren hast du das Restaurant Hiltl übernommen. Gleichzeitig hattest du zu der Zeit eine junge Familie mit drei Kindern. Wie hast du das unter einen Hut gebracht?

Das war schon schwierig und immer ein Balance-Akt. Aber ich habe meine Arbeit sehr geliebt und entsprechend auch viel gearbeitet – vielleicht manchmal etwas zu viel. Meine Familie brachte dafür viel Verständnis auf, und es kam auch gut an, dass ich mit so viel Leidenschaft Unternehmer bin – zumindest meistens (lacht).

Hattest du nie Angst, dass du zu Hause etwas verpasst?

Nein, gar nicht. Ich habe meine Arbeit so gerne gemacht, dass ich nie das Gefühl hatte, ich verpasse etwas. Ich habe meine drei Kinder auch viel gesehen, aber halt häufig auch im Geschäftsumfeld – also zum Beispiel, wenn sie nach der Schule ins Restaurant kamen.

Wie steht es denn um das Thema Vereinbarkeit in der Gastronomie?

Das ist eine grosse Herausforderung – aber ich denke, das ist es für alle Unternehmer, unabhängig von der Branche. Aber natürlich ist das Thema Vereinbarkeit bei unseren Angestellten in der Küche und im Service auch ein Thema – nicht nur bei den Frauen.

Rolf Hiltl
Mein Ziel war es immer, dass bei uns 50 Prozent Frauen arbeiten – auch in der Küche. Koch ist schon ein männlich geprägter Beruf, und das spürt man häufig an den Umgangsformen.

Wie viele Frauen arbeiten denn im Hiltl?

Oh, ich hätte natürlich wissen müssen, dass diese Frage kommt! Ich frag nachher gleich im HR nach. Mein Ziel war es immer, dass bei uns 50 Prozent Frauen arbeiten – auch in der Küche. Koch ist schon ein männlich geprägter Beruf, und das spürt man häufig an den Umgangsformen. Es gibt Betriebe, da werden Mitarbeiter von ihren Chefs regelmässig aufs Übelste beschimpft und angeschrien. So etwas machen Frauen nicht, oder vielleicht auf eine andere Art. Sie sind dann vielleicht eher etwas zickig. (Lacht laut.)

(Die Redaktorin zieht die Augenbrauen hoch.)

Ich weiss, ich sollte dieses Klischee nicht bedienen! Also jedenfalls habe ich von Anfang an gesagt: Bei uns in der Küche will ich solche Umgangsformen nie sehen.

Und ist das gelungen?

Wenn ich bei uns im Restaurant durch die Küche gehe, spreche ich häufig mit den Mitarbeiterinnen und frage insbesondere junge Köchinnen, die bei uns neu angefangen haben: «Wie fühlst du dich bei uns? Wie ist die Atmosphäre?» Mir ist es sehr wichtig, dass sich alle wohl fühlen bei uns. Und ich glaube, das gelingt uns ganz gut.

Du bist selbst gelernter Koch. Wie hast du dich als zarte Männerseele in diesem Umfeld zurechtgefunden?

Ich habe damals die Lehre im Dolder Grand gemacht – da war der Umgang dank dem damaligen Küchenchef Paul Spuler eigentlich ganz gut. Aber die Hierarchien waren schon sehr krass. Der Küchenchef hat uns alle geduzt und wir mussten ihn siezen. Ich erinnere mich auch noch gut daran, wie alle Köche ihre Töpfe jeweils den Casseroliers brachten. (Anmerkung der Redaktion: Person in der Küche, die sicherstellt, dass alle Köch:innen und der Service genug sauberes Geschirr haben.) Ich als Lehrling habe das gesehen und dachte mir: Das mach ich auch so. Da hat der Casserolier die Töpfe genommen und mir hinterhergeschmissen. Das war für mich damals als 17-Jähriger schon heavy.

Ist das heute immer noch so mit diesen krassen Hierarchien in der Küche?

Manchmal habe ich den Eindruck, dass Menschen, die so krasse Geschichten in Küchen erlebt haben, eine Art Muster entwickeln und diese Umgangsformen weitergeben wollen. Zum Glück ticken da die Jungen ganz anders – die lassen sich das nicht mehr gefallen. Klar, es gibt noch immer ältere Küchenchefs, die sich so verhalten, aber die finden keine Mitarbeiter:innen mehr. Zu Recht.

Aber du als Mann bist bestimmt sehr intuitiv und führst dein Team mit Gefühl?

Mein Motto lautet: Klarheit und Barmherzigkeit. Das ist aber manchmal gar nicht so einfach, weil das zwei gegensätzliche Pole sind. Jetzt habe ich mich operativ etwas zurückgenommen – aber früher bekam ich ab und zu den Vorwurf, dass ich zu barmherzig bin.

Inwiefern? Männer können ja bekanntlich nicht so gut durchgreifen …

Mir fällt es schwer, einen Schnitt mit Leuten zu machen, weil ich an das Gute in den Menschen glaube. Deshalb habe ich Mitarbeiter:innen immer ganz viele Chancen gegeben – aber irgendwann muss man halt auch mal sagen können: Jetzt reichts! Sonst fehlt die Klarheit.

Rolf Hiltl
Historisch hatten wir 80 Prozent weibliche Gäste. Als ich das Hiltl dann vor über 20 Jahren übernommen habe, habe ich gesagt: «Das geht nicht, ich will 50 Prozent Männer hier.»

Die einen heiraten eine reiche Frau, die anderen haben den reichen Papa. Hast du dich damals, als du das Hiltl von deinem Vater übernommen hast, nie gefragt, ob du das überhaupt alles kannst?

Diese Frage kommt oft. Ich führe das Hiltl ja in der vierten Generation, aber ich habe nie Druck verspürt. Ich wollte das – sogar schon als Kind. Als ich sieben Jahre alt war, sassen wir in diesem Gebäude bei meinem Papa im Büro, und ich wurde gefragt, was ich später machen will. Dann habe ich auf den Stuhl meines Vaters gezeigt. Aber klar, vielleicht war indirekt schon Druck da, weil ich das Unternehmen meiner Vorfahren erfolgreich weiterführen wollte.

Aber jetzt mal ehrlich: Eigentlich stecken schon vor allem Frauen hinter dem grossen Erfolg des Hiltl?

(Nickt heftig.) Ja, sehr viele Frauen! Deshalb machen wir das Interview auch hier in der Hiltl Akademie (zeigt auf eine Wand mit Fotos). Hier siehst du meinen Urgrossvater Ambrosius Hiltl, den Gründer. Daneben ist seine Frau Martha Gneupel-Hiltl. Sie hat den Laden eigentlich geschmissen. Mein Urgrossvater kam nach Zürich mit Gicht, deshalb musste er sich vegetarisch ernähren. Er hat das Hiltl gegründet und hat im Vordergrund den Laden repräsentiert – aber die Küchenchefin Martha hat im Hintergrund alles gemacht. In sie hat er sich dann auch verliebt.

Typisch Männer, sehen vor allem gut aus, aber können nicht anpacken.

Auch meine Grossmutter hat den Laden dann allein geschmissen, weil mein Grossvater früh gestorben ist. Sie hat das super gemacht, und ihr verdanken wir auch den indischen Einfluss im Hiltl. Sie ist in den 50er-Jahren nach Indien gereist und hat sich inspirieren lassen. Du siehst also – sehr viele starke Frauen in der Hiltl-Geschichte. Apropos, vielleicht gibt es da draussen schon bald einen Platz, der nach Martha Gneupel-Hiltl benannt wird (zeigt aus dem Fenster auf eine Baustelle).

Erzähl!

Als ich gehört habe, dass die Stadt hier eine Fussgängerzone machen möchte, habe ich gefragt, ob wir nicht den Platz vor unserem Restaurant nach meinem Urgrossvater Ambrosius Hiltl benennen können. Da hiess es: «Das geht nicht, wir wollen mehr Strassen und Plätze nach Frauen benennen.» Meine Antwort war: «Kein Problem, ein Martha Gneupel-Hiltl Platz wäre genauso passend!»

Fleischessen gilt ja als etwas sehr Weibliches. Essen bei euch im Restaurant überhaupt Frauen?

(Lacht laut.) Nein, wir sind eine Männerbastion – fast wie im Steakhouse. Nein, im Ernst, historisch hatten wir 80 Prozent weibliche Gäste. Als ich das Hiltl dann vor über 20 Jahren übernommen habe, habe ich gesagt: «Das geht nicht, ich will 50 Prozent Männer hier.»

Weshalb?

Ich bin der Meinung, dass Balance immer wichtig ist – wie in der Natur. Ich orientiere mich gerne an der Natur, ich glaube, da liegt die Wahrheit. Jedenfalls sind wir mittlerweile bei 60 Prozent Frauen und 40 Prozent Männer.

Wie hast du das geschafft?

Der Knaller war natürlich, als ich Ende der 90er-Jahre Alkohol hier eingeführt habe. Das Hiltl wurde ja als  «Vegetarierheim und Abstinenz-Café» gegründet. Als ich damals übernommen habe, sagte ich meinem Vater: «Wir müssen hier Wein und Bier verkaufen, sonst kommt niemand.» Mein Vater war damit einverstanden, wollte aber nicht, dass ich es auf die Karte schreibe – so als softer Start. Meine Grossmutter hingegen hat dann einen Monat lang nicht mehr mit mir gesprochen, sie war richtig sauer.

Rolf Hiltl
Der alte weisse Mann, wenn ich das mal so sagen darf, der hat das Gefühl, er braucht Fleisch, um stark zu sein. Aber das Coole ist: Die NextGen sieht das nicht mehr so!

Heute ist es ja normal, dass Männer im Hiltl ein Cüpli trinken.

Genau, wir hatten ja auch eine Zeit lang einen eigenen Club. Die jungen Männer verstehen aber auch sonst, was wir hier machen. Und manchmal sage ich ihnen auch: Wenn ihr eine nette junge Frau kennenlernen wollt, dann geht doch einfach bei uns in die Hiltl-Dachterrasse und schleicht etwas ums Buffet (lacht).

Warum müssen Frauen den Fleischgenuss immer noch so zelebrieren?

(Stutzt.) Also die Frauen, warum die das zelebrieren müssen? (Lacht laut.) Ich glaube, das hat mit Traditionen zu tun. Der alte weisse Mann, wenn ich das mal so sagen darf, der hat das Gefühl, er braucht Fleisch, um stark zu sein. Aber das Coole ist: Die NextGen sieht das nicht mehr so! Mein Sohn Téo zum Beispiel isst zurzeit auch vegetarisch und ist trotzdem ein riesen Fätzen. Aber bei den älteren Männern ist das schon krass. Ich war kürzlich mit meinen Jungs essen … Natürlich haben alle Fleisch bestellt. Und dann erst noch Leberli mit Rösti – das haben die Leute schon vor 50 Jahren gegessen.

Fehlt es Frauen auch einfach an Empathie für die Tiere?

Wenn Leute drei Mal pro Tag Fleisch essen – ja das gibt es wirklich noch – dann fehlt es ihnen natürlich an Empathie für die Tiere. Aber eben, es braucht halt einfach auch Zeit, bis sich Essgewohnheiten in der Gesellschaft verändern. An einem Panel habe ich mal von einer Expertin gehört, dass es bis zu sieben Generationen dauert, bis sich Essgewohnheiten ändern. Wir konzentrieren uns also vor allem darauf, die Jungen abzuholen.

Welche Tiere haben es dir besonders angetan?

Ich mag eigentlich alle Tiere, aber am liebsten Hunde. Ich habe selbst einen Vizsla. Und ich bin überzeugt, dass Menschen, die mit Tieren gut sind, auch mit Menschen gut sind.  

Rolf Hiltl
Ich finde, alle, die Fleisch essen, müssten auch fähig sein, ein Tier zu töten. Sonst sollten sie kein Fleisch essen.

Zum Abschluss noch ein paar kurze, knackige Fragen. Welche Gastronominnen inspirieren dich?

Da gibt es einige! Zizi Hattab zum Beispiel oder Lauren Wildbolz – sie ist Miss Vegan. Oder Haya Molcho aus Tel Aviv – sie führt mit ihren vier Söhnen Restaurants. Sie ist super, ihr gehört das Neni. Und dann auch ganz viele Köchinnen bei uns hier im Hiltl.

Dein Lieblingsrezept aus dem Hiltl für alle Hausmänner?

Unser Tartar natürlich. Dann können die Hausmänner ihre Freunde einladen, und alle denken, es sei Fleisch – aber es ist eigentlich Aubergine.

Ist das deine Kreation?

Ja, das Rezept haben wir für meine älteste Tochter kreiert, die übrigens auch Céline heisst. Als sie eine Zeitlang in Sydney gelebt hat, wurde sie Vegetarierin. Da hat sie mich mal angerufen und meinte: «Ich bin jetzt vegi, Papa, aber ich liebe einfach Tartar. Kannst du da etwas machen?» Und so kam es zu dieser Kreation.

Was ist dein «guilty pleasure»?

(Überlegt kurz.) Ich bin ja Flexitarier – ich esse also ab und zu Fleisch. Aber sehr gezielt.

Wann zum Beispiel?

Vor ein paar Jahren war ich mal mit meinem Sohn auf der Jagd in Tschechien. Ein Mitarbeiter von uns kommt von da und hat uns auf das Jagdrevier seines Vaters eingeladen. Und da habe ich einen Rehbock geschossen (hält kurz inne und schluckt leer), ihn dann zum Auto geschleppt, ausgenommen und schliesslich gegessen. Ich hatte schon ein sehr komisches Gefühl im Bauch, als ich dieses wunderschöne Tier da liegen sah. Aber es war dann ein sehr bewusstes Fleischessen. Ich war nur einmal in meinem Leben auf der Jagd, aber ich wollte mal sehen, wie das ist. Ich finde, alle, die Fleisch essen, müssten auch fähig sein, ein Tier zu töten. Sonst sollten sie kein Fleisch essen.

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